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Gagarin als Erinnerungsfigur und Archivkörper

Matthias Schwartz, Freie Universität Berlin; Holt Meyer und Kevin Anding, Universität Erfurt 15.04.2011-16.04.2011, Berlin

Bericht von: Nikita Braguinski, Berlin
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Der von Matthias Schwartz (Freie Universität Berlin), Holt Meyer und Kevin Anding (beide Universität Erfurt) organisierte Workshop "Gagarin als Erinnerungsfigur und Archivkörper" fand in der zeitlichen Nähe der 50-jährigen Wiederkehr des ersten bemannten Raumflugs statt, bei dem die Sowjetunion noch vor den USA einen Menschen, den Militärflieger Juri Gagarin, ins Orbit befördern konnte. Die diesbezüglichen offiziellen Feierlichkeiten in Russland und deren weitgehendes Ausbleiben in Deutschland bildeten den politischen und historischen Hintergrund für die interdisziplinären Annäherungen an dieses Thema, die im Workshop zu einer anregenden und fruchtbaren Zusammenarbeit verschmolzen. Den beiden Schlüsselwörtern "Erinnerungsfigur" und "Archivkörper" im Titel des Workshops wurden jeweils eigene Sektionen gewidmet. Die dritte Sektion bildete die Auseinandersetzung mit dem akustischen Archiv des Gagarin-Diskurses in Form von Musikwerken und (technischen) Tondokumenten.

Im ersten Vortrag des Workshops, der zugleich in gewissem Sinne Einführungsvortrag und Stilvorgabe für die Arbeit des Workshops wurde, betrachtete HOLT MEYER (Erfurt) Gagarins Besuch der Stadt Erfurt im Jahre 1963 im historischen Kontext der bevorstehenden DDR-"Volkskammerwahl". Meyer wies dabei auf das schnelle Verlorengehen des gagarinschen Utopie-Potenzials und die darauf folgende Einschreibung Gagarins in die "Verwaltungsutopie" hin. Der Vortrag war insgesamt durch einen dekonstruierenden Zugang gekennzeichnet, der Diskursanalyse mit Ironie, Witz und einem kreativen Zugang zur Sprache verband. So wies Meyer beispielsweise auf die im (dem Erfurter SED-Blatt "Das Volk" entnommenen) Reim "Wahl-All" enthaltene unfreiwillige Selbstenthüllung
hin: das Fehlen einer echten Wahl in der DDR spiegelt sich in der Singularität des Alls.

Der darauf folgende Vortrag von THOMAS TETZNER (Chemnitz) war dem utopischen Diskurs des Neuen Menschen und der Fokussierung dieser Denktradition in der Figur Gagarins gewidmet. Mit einem bis in die Antike zurückgehenden Überblick über die Ideengeschichte der Vorstellungen vom Neuen Menschen konnte Tetzner Gagarin und die ihn umgebende utopische Kosmos-Euphorie der frühen 1960er-Jahre in einen breiten Kontext einordnen. Besondere Erwähnung fanden dabei die russischen Denker wie Konstantin Ziolkowski und die sogenannten Biokosmisten, bei denen sich mystische Utopien von der Menschheitserneuerung und der Besiedlung des Universums mit durchaus praktischen physikalischen Vorarbeiten für die Flugapparate verbanden. Die Einbettung in diese utopische Denktradition erlaubte eine neue, alternative Sichtweise auf das Medienereignis Gagarin. Ebenfalls wichtig für den weiteren Verlauf des Workshops war Tetzners Hinweis darauf, dass die utopische Hoffnung auf die Erschaffung eines im physischen Sinne neuen, also etwa sich vom Sonnenlicht ernährenden Menschen lediglich in der frühen revolutionären Zeit eine Rolle im Diskurs der Bolschewiki gespielt hat und nicht, wie oft als Beweis für den realitätsfernen Charakter des Sozialismus dargestellt, in der gesamten sowjetischen Periode prägend war.

Das Märchenhafte der Kosmosphantasien bei Ziolkowski bildete gewissermaßen die Überleitung zur Gagarin-Darstellung in der Kinder- und Jugendliteratur, die KEVIN ANDING (Erfurt) in seinem Vortrag analysierte. Ausgehend von der historischen Schwelle zwischen der Chruschtschow- und der Breschnew-Ära betrachtete Anding in der Sowjetunion und in der DDR herausgegebene Gagarin-Biographien für Jugendliche und ihre Wandlung als Text im Laufe der Überarbeitungen und Neuausgaben. Anding wies dabei auf die Transtextualität der Gagarin-Narrative hin, das heißt auf den eigentümlichen Zustand, bei dem sich intertextuelle Verweise in der Gagarin-Darstellung immer nur auf die gleiche Gruppe der Texte beziehen, wobei die Autorschaft (und mit ihr die Verantwortung für die Aussage) mit jedem weiteren intertextuellen Schritt zusehends verschwinden. Die sich dadurch ergebende Entautorisierung des Wissens und die Fiktionalisierung des Gagarin-Narrativs war schließlich Voraussetzung dafür, dass die betrachteten Gagarin-Biographien erkennbare Züge einer Heiligen-Vita ausbilden konnten.

Nach der ersten Sektion, die sich vor allem mit Texten beschäftigte, konzentrierte sich die zweite Sektion auf das visuelle Gagarin-Archiv bzw. seine Verarbeitung in der zeitgenössischen Kunst.

IINA KOHONEN (Helsinki) präsentierte ihre Analyse des von ihr in russischen Archiven und Zeitschriften gesammelten Korpus an offiziellen Fotografien von Gagarin und anderen frühen Kosmonauten. Sie zeigte feste Topoi der Kosmonauten-Repräsentation auf, die in der Darstellung der sowjetischen Kosmonauten immer wieder vorkommen, wie etwa die Ankunft am Flughafen in Moskau, das Telefongespräch mit Chruschtschow, Feizeitaktivitäten mit der Familie usw. Sie wies dabei auf das eigentümliche Detail hin, dass Gagarin während seines hochoffiziellen Staatsempfangs am Flughafen offene Schnürsenkel hat. Sie fragte, ob man einen Kontext definieren könne, in dem dieses auf den ersten Blick absurde Detail (auf das später an mehreren Stellen sogar gesondert hingewiesen wurde) Sinn machen würde. Kohonen argumentierte dafür, dass die kleinen Fehler (wie die Schnürsenkel) bewusst nicht vollständig ausgemerzt wurden, um der Figur Gagarins mehr Authentizität und Menschlichkeit zu verleihen.

Der darauf folgende Vortrag von JULIA FERTIG (Berlin) war der Verarbeitung des sowjetischen Kosmos-Diskurses in den Installationen des russischen Künstlers Ilja Kabakov gewidmet. Unter Heranziehung eines philosophisch ausgerichteten Archiv-Begriffs unterzog Fertig vor allem Kabakovs Installation "Der Mann, der aus seiner Wohnung in den Kosmos flog" (1984) einer detaillierten Analyse, bei der Kabakovs ironischer und kreativer Umgang mit Bruchstücken des sowjetischen Kosmos-Denkens beleuchtet wurde. Gleichzeitig wies sie auf Parallelen zwischen den Darstellungen in Kabakovs autobiographischem Text "In die Zukunft werden nicht alle mitgenommen" und dem Archivbegriff, bei dem ebenfalls "nicht alle ins Archiv mitgenommen werden", hin.

Nachdem im Vortrag von Julia Fertig die Arbeit eines Künstlers wissenschaftlich analysiert wurde, hatte der Künstler FRANCIS HUNGER (Leipzig) die Gelegenheit, selbst seine kosmos- und russlandbezogenen Arbeiten vorzustellen. Er erläuterte die Entstehungsgeschichte und Hintergründe mehrerer seiner Werke, in denen - wie etwa in "International Sputnik Day" oder in "Chor der toten Raumfahrer" - das heroische und propagandistisch aufbereitete sowjetische Kosmos-Narrativ aus einer postmodernen künstlerischen Perspektive aufgemischt und in unerwarteter Weise neu zusammengesetzt wird.

Im ersten Vortrag der dem Akustischen gewidmeten Sektion analysierte NIKITA BRAGUINSKI (der Verfasser dieses Berichts, Berlin) Aleksandra Pachmutovas Gagarin-Lied "Znaete, kakim on parnem byl" (1971) und, als Kontrast dazu, den Dance-Track "Gagarin Party" der russischen Gruppe Kar-Men aus dem Jahre 1994. Zweck dieser vergleichenden Gegenüberstellung war, typische Merkmale der musikalischen Gagarin-Darstellung in der Blütezeit der offiziellen sowjetischen Musikpropaganda (bei Pachmutova) und während der dekonstruktivistisch ausgerichteten Phase kurz nach der Auflösung der Sowjetunion herauszuarbeiten. Braguinski argumentierte dafür, dass während bei Pachmutova ein Werk der sogenannten Hochkultur im Gewand eines Popularmusikstückes entstand, Kar-Men sich vor allem karnevalesk zeigt, indem die Gruppe hohe sowjetische Rhetorik neben bewusst sinnentleerte englischsprachige Tanzanfeuerungen setzt.

Im nächsten Vortrag stellte LARISSA MEDVEDEVA-TÜRK (Darmstadt) ihre Periodisierung des dem ersten Kosmonauten gewidmeten sowjetischen und russischen Liedgutes vor. Diese Periodisierung, die sich an mehreren historischen Einschnitten wie etwa Gagarins Tod orientiert, zeigt den zeitlichen Wandel der Stilistik, der Inhalte und generell des Zugangs zur Figur Gagarins. Mit einer statistischen Auswertung der Häufigkeit der Gagarin-Lieder konnte Medvedeva zeigen, dass Gagarin als Liederheld in der späten sowjetischen Zeit von 1978 bis 1988 praktisch nicht mehr präsent war, bis er in den 1990ern als Objekt der Nostalgie zurückkehrte (jedoch ohne das sowjetische pathetische Propagandapotenzial). Für die neueren Lieder zeigte Medvedeva die Rückkehr alter ideologischer Muster der Gagarin-Verehrung auf und wies in diesem Zusammenhang auf den ideologischen Wechsel hin, der in Russland seit Putins Machtübernahme vollzogen wird.

Im letzten Vortrag des Workshops beschäftigte sich TOM JÜRGENS (München) mit den Aufnahmen von Gagarins Funkkommunikation während des Flugs und mit ihrer kulturellen Signifikanz. Jürgens ging zunächst auf die psychologische Funktion des Funkkontakts mit Gagarin, die Vermeidung der Stille, ein, die während des Flugs sonst einen hohen Stressfaktor für den Kosmonauten dargestellt hätte, und wies in diesem Zusammenhang auf die bekannte Folter durch Abschottung von jeglichen Sinneseindrucken hin. Mit einer Wort-Statistik der Gagarin-Funkprotokolle konnte Jürgens aufzeigen, dass die Kommunikation während des Flugs in erster Linie durch Redundanz, Banalität und Lakonie gekennzeichnet war, sodass die Aufrecherhaltung der Kommunikation zum einzigen wichtigen Inhalt dieser Kommunikation wurde. Anschließend analysierte Jürgens die repräsentative Funktion der stark rauschenden Aufnahmen und argumentierte dafür, dass während in den 1960er-Jahren das Vertrauen in die Authentizität der Photographie (durch die Retouche-Möglichkeiten) verloren ging, dem Rauschen die Aufgabe zukam, den Flug zu authentifizieren. Anschließend wurde auf den eigentümlichen Widerspruch hingewiesen, in dem dieses Rauschen zur (vorgegebenen) technischen Perfektion der Flugapparatur stand.

Der in den Räumen des Museums Karlshorst (des Ortes der Kapitulation des nationalsozialistischen Deutschlands) veranstaltete Workshop wurde durch eine Podiumsdiskussion mit dem Raumfahrt-Journalisten Gerhard Kowalski und durch ein umfangreiches Filmprogramm im Kino des Russischen Hauses der Wissenschaft und Kultur ergänzt. Die Arbeit des Workshops zeichnete sich durch eine lebendige interdisziplinäre Diskussion der Vorträge aus, an der auch die zahlreichen Besucher aus dem Publikum aktiv teilgenommen haben. Der Workshop hat einen wichtigen Beitrag zur Beschäftigung mit der Massenkultur im Staatssozialismus geliefert und stellte ein Beispiel für effiziente interdisziplinäre Zusammenarbeit in den Kulturwissenschaften dar.