003.png

Matthias Heymann
Theoretisches Wissen und praktische Erfahrung. Hintergründe zur Mißerfolgsgeschichte der Windenergie im 20. Jahrhundert

Trotz des Niederganges der Windmühle und der Windenergienutzung entwickelte sich die Windenergietechnik im 20. Jahrhundert in großen Schritten weiter. In keinem der vorangegangenen Jahrhunderte veränderte sich die Windenergietechnik so rapide wie im 20. Jahrhundert und entstanden so viele neue Windkraftanlagen. In keinem der vorangegangenen Jahrhunderte gab es allerdings auch eine so gewaltige Häufung technischer Mißerfolge in der Windenergietechnik.
Zwischen 1920 und 1980 waren neuentwickelte Windkraftanlagen, die länger als wenige Monate liefen, bevor sie durch technische Schäden zerstört wurden, die große Ausnahme. Selbst zahllose Kleinanlagen mit geringeren Leistungen als Windmühlen erwiesen sich als technische Flops. Ihren Höhepunkt erreichte diese Mißerfolgsgeschichte in den millionenschweren staatlichen Forschungs- und Entwicklungsprogrammen verschiedener Länder in den 1970er und 80er Jahren, aus denen keine einzige (!) kommerziell erfolgreiche Windkraftanlage resultierte. Die großen Erwartungen, die Wissenschaftler und Ingenieure aber auch Unternehmer und Politiker in neue, ausgefeilte Anlagenkonzepte gesteckt hatten, wurden nahezu ausnahmslos enttäuscht. Ausgerechnet dänische Handwerker waren es, die unabhängig von staatlicher Forschungsförderung in den 1970er und 80er Jahren die technischen Voraussetzungen für einen Windenergieboom schufen.

Wie war es möglich, daß in einem Zeitalter rapiden technischen Fortschritts und tiefgreifender technischer Revolutionen hunderte von neuentwickelten Windkraftanlagen nicht den Erwartungen entsprechend funktionierten? Wie war es möglich, daß die Windenergietechnik im 20. Jahrhundert so deutlich von technischen Mißerfolgen geprägt und behindert wurde? Und warum vermochte erst eine Handwerkertradition in Dänemark die technischen Voraussetzungen für eine Renaissance der Windenergienutzung zu schaffen? Die Analyse von 100 Jahren Geschichte der Windenergietechnik zeigt, daß die Veränderung technischen Wissens und technischer Traditionen entscheidenden Anteil an den Mißerfolgen der Windenergietechnik hatte. Mit dem Niedergang der Windmühle verschwanden auch Müller und Mühlenbauer mit einem großen Erfahrungsschatz technischen Wissens. Wissenschaftler und Ingenieure begannen die Windenergietechnik zu dominieren und den Akzent einseitig auf anspruchsvolle Neuentwicklungen zu legen und praktische Erfahrungen zu vernac hlässigen. Diese Erfahrungsdefizite führten zu einer systematischen Unterschätzung der technischen Probleme von Windkraftanlagen.

In diesem Vortrag soll gezeigt werden, in welcher Weise die Veränderungen technischer Traditionen und technischen Wissens auf die Windenergietechnik wirkten. Insbesondere soll versucht werden, die unterschiedlichen Formen technischen Wissens von akademisch ausgebildeten Wissenschaftlern und Ingenieuren und von praktisch ausgebildeten Handwerkern anhand der Erfahrungen aus der Geschichte der Windenergietechnik zu charakterisieren. Dabei wird deutlich, welche Bedeutung und welche Schwächen und Stärken die unterschiedlichen Wissensformen in verschiedenen Phasen von Innovationsprozessen haben.