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"Die Chemie des Lebens". Formen populärwissenschaftlicher Chemievermittlung zwischen 1850 und 1930

Barbara Orland

Wenn es stimmt, daß die Art und Weise der Vermittlung von Wissen Einfluß darauf nimmt, wie Menschen die Welt um sich herum wahrnehmen, dann ist die Feststellung von nicht unbeträchtlichem Interesse, daß ab etwa Mitte des 19. Jahrhunderts ein auffallender Zuwachs an populärwissenschaftlicher Literatur zu allen Bereichen von Naturwissenschaft und Technik feststellbar ist. Populärwissenschaftliche Sachbücher unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht von anderen Arten, sich Wissen, Fertigkeiten und Bildung anzueignen. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Lehrbüchern und sonstigen Unterrichtsmaterialien dienen sie nicht dem Zweck, einen formalisierten Bildungsabschluß zu erwerben. Sie vermitteln auch nicht zwingend Anwendungswissen in dem Sinne, daß sie für die Ausübung eines Gewerbes oder einer sonstigen Tätigkeit unmittelbar notwendig sind. Sie bieten also keinen Anreiz zur Vermehrung von Wissen zum Zwecke persönlicher Gewinnmaximierung, sondern fallen noch am ehesten unter die Kategorie »Bildung als Kulturgut« .
An einem ausgewählten Beispiel - den populären Chemiebüchern für »Jedermann« und »Jedefrau« aus der Zeit zwischen 1850 und 1930 - möchte ich einigen der sich daraus ergebenden Fragen nachgehen: Welche Anreize zur Vermehrung abstrakten, chemischen Wissens gaben populäre Chemiebücher dieser Zeit? Wie generierten sie den Wissenskanon zeitgenössischer Chemie, und in welchem Verhältnis stand dieser zum jeweiligen Stand chemischer Wissenschaft? Was läßt sich über Motive und Gesellschaftsbild der Verfasser populä rer Chemiebilder aussagen?