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Ulrich Wengenroth
»Kunst« und Wissenschaft in der Technik des 20. Jahrhunderts. Zur Bedeutung von »tacit knowledge« und induktivem Denken beim Hervorbringen und Nutzen von Technik

Während die Naturwissenschaften den Wahrheitsgehalt ihrer Aussagen durch immer stärkere Einengung ihres Untersuchungsgegenstandes steigerten und in ihrer Spitzenforschung mittlerweile bei den Komponenten des Atomkerns oder der DNA-Fäden angekommen sind, hat die Technik auf der anderen Seite die Komplexität ihrer Artefakte und Systeme in entgegengesetzter Richtung stets erweitert - eine Komplexität, die immer nur partiell (aber nie vollständig!) in Theorien abbildbar ist. Dabei wirkte die Privilegierung der Sprache der exakten Naturwissenschaften, die historisch zur Legitimationsbeschaffung herangezogen wurde, langfristig in Richtung einer reduzierten Wahrnehmung der Bedingungen für die Hervorbringung von Technik wie auch ihrer Anwendung. Die Ausgrenzung des »Kunst«-diskurses erschwerte die Wahrnehmung jener Fähigkeiten, mit denen die weiten nicht determinierten Bereiche der Artefakte und Systeme strategisch beherrscht werden können. Wo Handlungsanschlüsse im Zuge dieser mittlerweile säkularen Diskursverschiebung nicht mehr an zentraler Stelle thematisiert wurden, wuchs die Gefahr, daß sie entweder mißlangen oder in ihrem produktiven Potential völlig unterschätzt wurden. Augenfälligster Ausdruck der so entstanden Sprachlosigkeit zwischen sich naturwissenschaftlich-reduktionistisch legitimierenden Konstrukteuren und industriellen wie privaten Nutzern, die mit technischer Hilfe »vollständige« Leistungen erbringen müssen, ist das »Anwenderversagen«. Auf der anderen Seite hat es dagegen fast schon etwas Subversives, wenn in der Produktion oder im Haus Steuerungsautomaten außer Gefecht gesetzt werden, um bestimmte Handlungsziele zu erreichen oder eine Multifunktionalität von Artefakten herzustellen, die nie geplant war.
Auch wenn der technische Fortschritt spätestens seit der Industriellen Revolution von der Anwendung naturwissenschaftlicher Kenntnisse mitgetragen wurde und dabei Abstraktion und Automatisierung zu Leitbildern der Technikentwicklung avancierten, so blieb die vielbeschworene Objektivierung technischer Prozesse über weite Strecken unvollkommen und wird es auf unabsehbare Zeit auch bleiben. Ohne ein gehöriges Maß an intuitiv begründeter »Kunst« bei der Erzeugung wie bei der Anwendung von Technik ging es nie und wird es wohl auch nie gehen.