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Die Bedeutung der Technikgeschichte für die politische Geschichte

Walter Kaiser

Innerhalb der politischen Geschichte ist es spätestens seit der Industriellen Revolution nicht mehr möglich - wenn es denn je möglich gewesen ist - Wissenschafts- und Technikgeschichte zu ignorieren, um sich auf eine Geschichte diplomatischer Bewegungen zu beschränken. Dabei darf man sich jedoch nicht mit der Vorstellung begnügen, die Bedeutung von Wissenschafts- und Technikgeschichte liege darin, daß hier weitere Aspekte der Allgemeingeschichte hinzugefügt werden. In Wirklichkeit geht es darum, in der historischen Tiefe die Wechselwirkung von Wissenschaft, Technik, Industrie und Politik zu analysieren. Entscheidend ist dabei ein weiterer Schritt, nämlich das Einbringen wissenschafts- und technikhistorischer Argumente in Kontroversen der Allgemeingeschichte und der Versuch, so zur Lösung historiographischer Probleme beizutragen.

Im Rahmen dieser doppelten politisch-historischen bzw. wissenschafts- und technikhistorischen Fragestellung sollen beispielhaft vier historiographische Probleme angesprochen werden: Die Mentalität der Eliten des deutschen Kaiserreichs, dargestellt anhand einiger Bemerkungen zur Biographie von Hermann von Helmholtz, die Frage der Kriegsschuld bzw. der Kriegsziele des Ersten Weltkriegs, aus der Sicht von Ammoniak-Synthese und Kriegsrohstoffabteilung, die Formel von der britischen »Appeasement-Politik«, kontrastiert mit der Entwicklung der Radartechnik, und schließlich die PAL-SECAM-Farbfernsehkontroverse als industriepolitische Zuspitzung der Nöte der bundesdeutschen Außen- und Deutschlandpolitik der sechziger Jahre.

Der Schwerpunkt des Vortrags soll auf dem Thema »Radartechnik und Appeasement-Politik« liegen. In seiner allgemeineren Bedeutung meint der Begriff »Appeasement« eine Politik, die konsequent nach Erhaltung des Friedens strebt, die versucht, systematisch Ursachen von Spannungen zu beseitigen, eine Politik, die schließlich bei bestehenden Spannungen ausgewogene Lösungen anstrebt. Im engeren Sinn beschreibt »Appeasement-Politik« mit einem stark kritischen Unterton die Politik der britischen Premierminister Stanley Baldwin und Neville Chamberlain gegenüber den Diktaturen Hitlers und Mussolinis in den entscheidenden Jahren von 1935 (dem Jahr des Deutsch-Britischen Flottenabkommens) bis 1938, also bis zum Münchner Abkommen. Die Verwendung des Begriffes »Appeasement« im Rahmen einer vorwurfsvollen Analyse der britischen Politik ist offensichtlich mit einer abschätzig gemeinten Bedeutung verbunden. »Appeasement« ist hier nahezu synonym mit einer demütigenden Aufgabe politischer und militärischer Positionen. Wenn man jedoch die historische Oberfläche einer bloßen diplomatischen Geschichte durchstößt und in die tieferliegenden Schichten eindringt, insbesondere in die druckvolle Entwicklung der britischen Radartechnik von 1935 bis 1940, ist man gezwungen, dieser negativen Interpretation von »Appeasement« scharf zu widersprechen.