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Biographie - ein Zugang zur Technikgeschichte?

Carmelita Lindemann, Norbert Gilson

Die kürzliche publizistische Flut an Biographien regt an, die Möglichkeiten zu erörtern, die eine Biographie für die technikhistorische Forschung eröffnet. Ausgehend von der Notwendigkeit, Handlungen der Akteure im Prozeß der Technisierung zu beschreiben und zu erklären, bietet die Biographie zur bisherigen Forschung eine Ergänzung. Es werden vorhandene biographische Forschungsansätze innerhalb der Geschichtsschreibung und der Soziologie auf ihren Ertrag für eine technikhistorische Biographie untersucht. Hierbei wird ausgeführt, inwieweit eine Analyse der Mentalität als vorbewußte Sphäre neue Erkenntnisse zur Erklärung von Handlungen der verschiedenen Akteure eröffnen kann. Aus der soziologischen Biographieforschung ergibt sich die Erkenntnis, daß bisherige Ansätze, die menschliches Verhalten allein aus verschiedenen sozialen Faktoren ableiten, dem Lebenslauf nicht gerecht werden. Aus den vorgestellten Ansätzen ergeben sich Anregungen für eine künftige Biographieforschung, deren Möglichkeiten anhand einiger Beispiele der Person Carl Duisbergs im Zusammenhang mit dem Aufstieg der chemischen Industrie angedeutet werden sollen.

Gegenstand der Biographik - darunter wird hier die Gesamtheit aller theoretischen Probleme der Biographieforschung und der Biographiegeschichtsschreibung verstanden - ist nicht ein Individuum, sondern die Entwicklung von Individuen oder Gruppen in einen Handlungskontext hinein, die Determination durch den vorgegebenen Zusammenhang sowie die Wirkung auf ihn. Gegenstand von Biographien sind Personen in Handlungskontexten, weder nur Personen noch nur Handlungskontexte.

Eine solche Leistung erwartete bereits Dilthey von Biographien. Mit seinen in der Lebensphilosophie wurzelnden und im Kontext des Begründungsdiskurses der Geisteswissenschaften stehenden theoretischen Überlegungen begründete er eine spezielle Methodologie des Verstehens. Die Tatsache, daß uns der Gegenstand der Geschichte gegeben ist in dem Inbegriff der Objektivationen des Lebens, begründet die Möglichkeit, durch einfühlendes Nachvollziehen des Ausdrucks, den das Leben produziert, einen Lebenslauf nacherlebend verstehen zu können.

Der Anspruch Diltheys, mit Hilfe dieser Methodologie über die einzelnen Lebensverläufe hinaus auch den Wirkungszusammenhang, die Struktur der historischen Welt, erfassen zu können, werde jedoch - so die Kritik Gadamers - nicht eingelöst. Die Biographie er scheine bei Dilthey deswegen als herausgehoben, weil es ein Theoriedefizit gebe, und zwar an der Stelle, wo Dilthey den Schluß von der Einzelbiographie auf die Allgemeingültigkeit beanspruche.

Daß Verstehen nicht gleich Verstehen ist, zeigt die zu Beginn des Jahrhunderts neu entstandene deutsche Soziologie. Sie entwickelte einen Begriff von Verstehen, um - nach Max Webers berühmtem Zitat aus »Wirtschaft und Gesellschaft« - »soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären«. Trotz vorhandener Ansatzpunkte wurde die Biographie für die klassische Soziologie - wegen der makrotheoretischen Grundorientierung und wegen des Abgrenzungsdrucks als einer Wissenschaft von den sozialen Strukturen gegenüber den Geisteswissenschaften - kein Thema.

Auf die lebensphilosophischen Grundlagen der Biographik gegründet erreichte die häufig gepriesene, aber auch vielfach kritisierte historische Belletristik (Emil Ludwig, Stefan Zweig) in den 20er und 30er Jahren einen großen Erfolg.

Die Einsichten der schon vor und dann seit dem Zweiten Weltkrieg zunächst dominierenden Strukturgeschichte (Ecole des Annales, Historische Sozialwissenschaft) machen die auf Diltheys Methodologie fußende Biographik ergänzungsbedürftig. Anregungen dazu bieten neuere Ansätze aus den verschiedenen Spielarten der verstehenden Soziologie, etwa dem Symbolischen Interaktionismus (G.H. Mead) oder der Lebensweltanalyse (Husserl, Schütz). Für eine moderne Biographik ist es wichtig, die Methodologie des Verstehens beizubehalten, aber sowohl über das Diltheysche Konzept - Verstehen als Nacherleben der Objektivationen vergangenen Lebens und der damit herausgehobenen Stellung der Psychologie - als auch über das Webersche - Verstehen als erklärendes Verstehen des Sinns sozialer Handlungen - und damit sowohl über Psychologie (Dilthey) und methodischen Objektivismus (Weber) hinauszugelangen. Mit Gadamer geht es darum, als Grundlage für eine Biographieforschung und -geschichtsschreibung eine Hermeneutik zu legen, die sich vom Objektivismus - sowohl der nicht-hermeneutisch verfahrenden Wissenschaften als auch einer bestimmten Form objektivistisch verfahrender Hermeneutik, z.B. derjenigen von Oevermann - abgrenzt und sich nicht mehr als allgemeine Methodologie der Kulturwissenschaften, sondern als Lebensform begreift.