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Das Oderbruch - Urbarmachung einer Landschaft im Spannungsfeld zwischen Staatsraison und Widerstand

Martina Kaup

Die Urbarmachung des Oderbruch gilt bis heute als eine der größten nichtmilitärischen Taten des preußischen Königs Friedrich II. Die bisher vorliegende Literatur ist dabei stark konzentriert auf die Aspekte der Urbarmachung zur Gewinnung neuer landwirtschaftlich nutzbarer Flächen und der Ansiedlung - ausländischer - Kolonisten zur Steigerung der Bevölkerungszahl. Kaum beachtet wurde bisher die Lage der bereits ansässigen Bevölkerung. Die borussische Historiographie und auch die neuere Forschung folgt hier der traditionellen Stilisierung des Königs als einem planvoll und langfristig handelndem Herrscher.
Eine gründliche Auswertung von Akten und Karten ergibt ein anderes Bild. Bereits unter Friedrich Wilhelm I. kam es 1716/17 zur Anlage eines Oderdeiches zwischen Lebus und Zellin. Durch diesen Deich waren die königlichen Domänen im Oderbruch vor den immer wieder kehrenden Hochwassern geschützt. Schutz und Unterhaltung dieses Deiches wurden in einer Deichordnung von 1717 geregelt. Zur Verbesserung der Vorflut wurde ab 1734 ein System von Gräben angelegt. Alle diese Maßnahmen waren aber nicht dazu geeignet, das Oderbruch vor dem verheerenden Hochwasser von 1736 zu schützen. Die bisherige Literatur geht davon aus, daß es danach nur noch zu Wiederherstellungsarbeiten kam, Friedrich Wilhelm I. aber einen Plan zur Urbarmachung des gesamten Oderbruchs mit der Bemerkung »Für meinen Sohn« beiseite gelegt haben soll. Diese Anekdote ist das Beispiel einer von der borussischen Historiographie gesteuerten Legendenbildung. Die Arbeiten im Oderbruch gingen klar über den Maßstab der bloßen Wiederherstellung des Zustands ante quem hinaus.

Auch nach dem Regierungsantritt Friedrichs II. änderte sich diese Politik zunächst nicht. Ihm war das Oderbruch aus seiner Auskultatoren-Zeit in Küstrin bekannt, und ebenso die Potentiale einer verbesserten Nutzung. In den ersten Jahren seiner Regierung unterschied sich seine Vorgehensweise nicht von der seines Vaters. Angestrebt wurde die Ausbesserung des Ufers auf größeren Teilabschnitten (so z.B. 1743-45 in der Neumark), um den Fluß schiffbar zu erhalten und die anliegenden Gemeinden vor den Schäden durch eindringendes Wasser zu bewahren. An einigen Orten waren die Beschädigungen der Ufer so massiv, daß auch die betroffenen Gemeinden wiederholt Abhilfe forderten. Dieses letzte Projekt alten Stils scheiterte am Widerstand eines lokalen Adeligen, zu dessen Herrschaftsbereich eine Reihe von Dörfern des Oderbruchs gehörte.

Anfang 1747 taucht ein neuer Plan auf: Die Anlage eines Kanals, der den Lauf der Oder um ca. 25 km verkürzt, die Einfassung der Alten Oder zwischen Güstebiese und Oderberg mit Deichen sowie Verbesserung und Erweiterung des bestehenden Grabensystems. Dieser Plan wurde in den Jahren 1747- 1756 unter großem finanziellen und auch menschlichem Einsatz verwirklicht. Die Bewohner des Oderbruchs setzten diesem Plan allerdings erbitterten Widerstand entgegen. Auch in den Dörfern, die wenige Jahre zuvor noch über die dauernde Überschwemmungsgefahr geklagt hatten, kam es zu Widerstand gegen die Urbarmachung. Diese haben ihre Ursache m.E. aber nicht im Unverständnis der einfachen Fischer, sondern lassen sich nur durch die veränderte Eingriffstiefe erklären. Hatte man sich bisher auf die Befestigung des Flußufers und die Abdämmung von Uferausbrüchen beschränkt, so ging es jetzt darum, auf 20 km Länge einen neuen Flußlauf zu schaffen, der zudem einige Dörfer in Flußanrainer verwandelte, die bisher weit von diesem entfernt waren. Aber nicht nur dies machte den alteingesessenen Bewohnern zu schaffen. Arbeiter und Kolonisten wurden in so großer Zahl in Dörfern und Städten einquartiert, bis nicht nur die Häuser, sondern im Sommer auch die Ställe überfüllt waren, die zur Arbeit eingesetzten Soldaten bedrängten sie. Der Fischerei, ihrem wichtigsten Erwerbszweig, konnten sie bereits seit Beginn der Bauarbeiten kaum noch nachgehen.

All dies führte zu vielfältigen traditionellen bäuerlichen Widerstandsformen, die von Bittschriften an den König über Prügeleien mit den Arbeitern bis hin zu vorsätzlicher Zerstörung der Deiche reichten. Dies kann nicht allein mit mangelnder Einsichtsfähigkeit einer konservativen Bevölkerung erklärt werden. Vielmehr gerieten die Fischer durch die Urbarmachung in eine existentielle Krise, die sie zu einer Anpassung an ihnen bisher unbekannte Erwerbsformen zwang. Anders als die Kolonisten erhielten sie keine finanzielle Unterstützung.

Auch der Erfolg der Urbarmachung muß wesentlich differenzierter betrachtet werden: Nicht für alle Betroffenen kam es zu einer Verbesserung der Lebensverhältnisse. An Orten, wo im Laufe der Jahrzehnte der Boden so weit trocknete, daß man erst zur Weidewirtschaft und dann auch zum Ackerbau übergehen konnte, wurden die folgenden Generationen wohlhabend. Für einige Orte am neuen Oderkanal war die Urbarmachung allerdings mit großen Nachteilen verbunden. Der neue Kanal trennte sie jetzt von ihrer Feldmark. Durch unzureichende Berechnung von Gefälleverhältnissen und Strömungsgeschwindigkeit der Oder kam es statt zu der erhofften Vertiefung des Flußbettes zu einer Aufhöhung. Bereits 1770 war das Bett der Oder statt der geplanten 18,5 m stellenweise bis zu 240 m breit. All dies zeigt, daß man die Urbarmachung des Oderbruchs nicht pauschal als »Erfolgsstory« schreiben kann.

Unter dem Aspekt einer Historischen Technologiefolgenabschätzung ist die Urbarmachung zwiespältig zu beurteilen. Zwar wurde mit dem Oderbruch eine der fruchtbarsten Agrarlandschaften Brandenburgs geschaffen, aber viele Arbeiten waren aus übergroßer Sparsamkeit oder fehlendem Wissen nur mangelhaft ausgeführt worden. Auch der Hochwasserschutz war unzureichend. Bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wurden neue Pläne für eine verbesserte Vorflut des Bruchs entworfen, aber erst nach der Jahrhundertmitte umgesetzt. In der Zwischenzeit war das Oderbruch stellenweise zum Notstandsgebiet geworden. Auch im 20. Jahrhundert wurden noch einmal tiefgreifende Entwässerungsmaßnahmen erforderlich. Mit der Veränderung des natürlichen Oderlaufs hatte man ein System geschaffen, zu dessen Erhaltung der Mensch immer wieder aktiv eingreifen mußte.