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Sibylle Obrecht
Abstoßungsreaktionen. Die Produktion von Differenz durch die Transplantationsmedizin der Nachkriegszeit

Die Transplantationsmedizin bildet schon seit mehr als dreissig Jahren einen Brennpunkt, in dem sich die Debatten über die Chancen und Risiken moderner, technisierter Biomedizin bündeln. Bis heute kann nicht von einer vollständigen gesellschaftlichen Normalisierung der Technik der Organverpflanzung gesprochen werden. Trotz (oder genau wegen) dieser nicht geglückten Stabilisierung haben die transplantationsmedizinischen Diskurse und Praktiken - so die Hauptthese meines Referats - die Definition der Integrität gesunder Körper stark geprägt: Das immunologische Konzept der "Abstossungsreaktion" gegen implantierte Organe und dessen interdiskursive Vermittlung an ein breites Publikum haben seit den 1960er Jahren wesentlich zur unspektakulären Durchsetzung der Vorstellung beigetragen, dass ein Organismus nur dann existieren kann, wenn er über ein funktionierendes System zur Erkennung und Durchsetzung von Differenz verfügt. Die hochtechnisierte und kontrovers diskutierte Transplantationsmedizin hat damit - über das auch im alltäglichen Kontext normalisierte Konzept des "Immunsystems" - die Diskurse, Interdiskurse und Praktiken mitgeformt, die heute (zumindest in westlichen Gesellschaften) Körper und soziale Ordnungen konturieren.