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Neuropathologie als filmische Inszenierung

Ute Holl

1908 zeichnet der Neurologe Camillo Negro aus Turin verantwortlich für einen medizinischen Lehrfilm, der schlicht "Neuropatologia" heißt. Negro ist Autor, Regisseur und Darsteller in einer Person. Setting und Ausstattung in diesem Film sind nichts als ein geschmiedetes Bett in einem Raum mit zwei kleinen Fenstern. Zwei Herren warten. Einer davon ist Negro, der andere, wie der Abspann später verrät, sein Assistent. Eine Dame mit Maske tritt auf. Sie gibt eine kurze Erklärung in Richtung Kamera ab, die im Stummfilm aber nicht zu hören ist, und fällt dann sofort zuckend aufs Bett, von Krämpfen geschüttelt und zu Posen verrenkt. Negro untersucht sie, sein Blick kommuniziert dabei stets mit der Kamera oder dem Kameramann, offenbar um sicherzustellen, daß alles im Bild sei. Gegen Ende des etwa 8 Minuten langen Films, als die Patientin den Eindruck erweckt, völlig erschöpft zu sein, gibt Negro wieder eine Zeichen aus der Szene heraus und beginnt nun, den Unterleib der Frau heftig gegen die Matratze zu pressen. Eine erneuter Anfall beginnt. Der Film läßt unentscheidbar werden, ob die Frau sich von sich aus bewegt, oder ob das heftige Stoßen des Professors und das Federn des Bettes die Bewegung ins Werk setzten. Subjekt und Objekt der Bewegung sind so ununterscheidbar wie Subjekt und Objekt der Neuropathologie, die hier, wie es scheint, "selbst" inszeniert ist. Die wissenschaftliche Demonstration produziert die Evidenz, die sie illustrieren und kanonisieren will. Die Visualisierung produziert ein Wissen, das, nach Negro, vermittelbar, lehrbar sein soll, und gleichzeitig zeigt sich die Methode der Visualisierung selbst als Grund für die Sichtbarkeit einer Krankheit, die vor allen photographischen und filmischen Verfahren noch als Krankheit ohne Körper, ohne materielles Objekt, "sine materia" (Charcot) bezeichnet mußte.

Kinematographie als Verfahren, Körperbewegungen zu speichern und zu systematisieren, wurde, das ist bekannt, im Kontext medizinischer, genauer, physiologischer Studien entwickelt. Viele filmtechnische Innovationen stammen aus den Laboratorien der Mediziner und Biologen: Zeitlupe und Zeitraffer, spezielle Optiken und Lichtgebungen, mikroskopische oder Röntgenfilmaufnahmen haben zunächst einen naturwissenschaftlichen Blick auf vorher nicht Sichtbares ermöglicht. Dank dieser Speicherung konnten Differenzen ins Unübersichtliche insbesondere auch der neurologischen Körperäußerungen eingeführt werden, konnte Normales und Pathologisches differenziert werden, konnte aus Zittern und Zucken eine ordentliche und lehrbare Symptomatik gemacht werden.

Frühe Studien beschränken sich dabei auf vergleichsweise simple, fast graphisch übertragbare Bewegungsstudien. Gerade in der Neurologie und Psychiatrie jedoch läßt sich um die Jahrhundertwende ein diskursiver Bruch entdecken: Kinematographie - oder Film, wie es da schon heißen müßte - avanciert von einer Hilfswissenschaft, von der reinen Illustrierung medizinischer Diagnostik zum Diagnose-Instrument selbst. Schriftliches wird, seit Marinescus und Polimantis bahnbrechenden neurologischen Aufnahmen, sekundär. Gleichzeitig werden die technischen "Optimierungen" der Bildlichkeit, werden alle Innovationen und Erfindungen in den filmischen Verfahren von Medizinern nicht als methodische oder sogar epistemologische reflektiert. Sichtbarkeit selbst, wie sie technisch poduziert ist, wird als Mehrwert des Bildlichen der Macht medizinischen Wissens zugeschlagen.

In diesem Kontext werde ich in meinem Vortrag drei Aspekte untersuchen:

1. Die Inszenierung und die Bedeutung der Geschlechterdifferenz in diesen medizinischen Filmen: Während in einer Analyse von photographischen Bildern aus naturwissenschaftlichen Kontexten noch Referenzen an Topoi und Motive aus der Kunstgeschichte zu erkennen sind, eröffnen filmische Kadrierungen und Kamerabewegungen um 1900 neue und unbekannte Wahrnehmungs-Räume. Das Motiv des "Künstlers und seines Modells" jedoch findet sich in allen Inszenierungen wieder ... von den frühesten Psychiatrie-Aufnahmen bis hin zur Röntgen-Kinematographie, für die etwa Robert Janker seine Assistentin posieren und sprechen ließ, bis sie sich buchstäblich auflöste.

2. Die Transformation von einem an der "m?thode graphique" (Marey) orientierten Meßverfahren für Bewegungsstudien zu einem bildgebenden Verfahren, das über die einfache Meßbarkeit hinaus ganz andere Aspekte der Bildlichkeit in die wissenschaftliche Diagnostik hinein"schmuggelt": Lichtgebung, Optik und Kameraführung strukturieren nicht nur das Bild, sondern insbesondere den Blick der Betrachtenden. Was bedeutet das? Inwiefern wird das entscheidend für die filmbasierte Diagnostik in der Neurologie des "Dritten Reiches"?

3. Interferenzen zwischen den wissenschaftlichen kinematographischen Verfahren aus den neuro-psychiatrischen Zusammenhängen einerseits und den künstlerischen Verfahren, mit denen im frühen Kino der zehner Jahre die "Hysterischen" und die "Verrückten" in den Studios in Szene gesetzt werden. In der Freilegung von bestimmten Schemata des Neurologisch-Pathologischen wären nicht nur gewisse Physiognomien und Bewegungsformen wiederzuerkennen , sondern insbesondere auch die filmische Form der Inszenierung, die sich als "Technik der Sichbarmachung" im wissenschaftlichen Diskurs stets und strategisch verbirgt.