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Der Tatort und seine photographische Wahrheit

Christine Karallus


Um 1900 wird die erkennungsdienstliche Tatortfotografie als Beweismittel in der Hauptverhandlung zugelassen. Erstmals in der Rechtsgeschichte wird damit einer visuellen Technik das Recht erteilt, im Rahmen der Prozessierung von Wahrheit und Lüge als Beweis zu fungieren. Als "Realie des Strafrechts", so 1893 der Grazer Untersuchungsrichter und Begründer einer systematischen Kriminalistik Hans Groß, vermag das fotografische Bild damit wesentlich zur Konjunktur der sachlichen Beweisführung beizutragen.

Ausgehend von dieser Situation eines epistemologischen Umbruchs in der Spurensicherung soll die Frage verfolgt werden, mittels welcher fotografischen Methoden und Apparaturen die fotografische Konstruktion einer Straftat, man könnte auch sagen, die Konstruktion eines Beweises über die Fotografie, erfolgt. Anhand ausgewählter Tatortaufnahmen des frühen 20. Jahrhunderts aus Berlin soll die Herausbildung einer "kriminalistischen Ästhetik" der Tatortfotografie aufgezeigt und in Hinblick auf ihre Konstitution eines "objektiven" bzw. "glaubwürdigen" Bildes befragt werden. Wesentlicher Bezugspunkt dafür ist eine Verfügung zur Aufnahme von Kapitalverbrechen von 1902.

In meinem Vortrag würde es also um die Frage nach der Tatortfotografie als Instrument der Spurensicherung und den damit verbundenen visuellen Prozessen des Selektierens, Bewahrens und Erinnerns von tatrelevanten Spuren gehen. Zugleich wird aber auch der Art und Weise der Zerlegung und Zusammensetzung eines Ortes bzw. einer Tat durch ein technisches Bildmedium nachgegangen. Es verdeutlicht sich, dass die Wahrnehmung des Tatorts bzw. der Spuren des Täters nicht abgelöst von seiner bzw. deren medialen und medientechnischen "Formatierung" zu denken ist. Erst in seiner Nutzung und Funktionszuschreibung erhält das fotografische Bild als Wissensobjekt seine Bedeutung. Die Voraussetzung dafür also, dass die Fotografie als Beweis gilt, liegt so gesehen darin, dass sie wie Daten produzierende Instrumente eine objektive Faktizität behauptet, die nicht mehr gedeutet werden muss.