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Claudia Reiche

Vom Nachleben des Kinematographischen in computerbasierten anatomischen Menschenmodellen. Zu Serienschnittanimation und Volume Visualization

Wurde das neue Medium Film um 1900 noch als "Lebende Photographie" gehandelt, so heißen heute andere medientechnologische Anwendungen mancherorts noch "lebend", nämlich des Computers. In weitestem Ausmaß gilt dies für populärwissenschaftliche Darstellungen neuer computergenerierter Bildmöglichkeiten. Hier ist das Beispiel von Datenbearbeitungen zu anatomischen Menschendarstellungen von besonderem Interesse, insbesondere im Umfeld des "Visible Human" Projektes.

Denn bei der Frage nach dem Bildmodus dieses 3dimensionaler anatomischer Modelle des Menschen kann erstaunen, daß sich Vorläufer im wissenschaftlichen Film vom Anfang des 20. Jahrhunderts finden lassen, die in kinematographischer Technik Wesentliches an Ästhetik und Deutungsmuster erarbeiten, was heute wiederum als spezifisch Neues dieser errechneten Bildlichkeiten beschrieben wird. Dabei finden mit einem Abstand von ca. 100 Jahren Überschreitungen dessen statt, was jeweils als 'Bild' gilt.

Anschaulich wird ein frühes Experiment medizinischer Kinematographie in folgender Mitteilung von 1907: "Der Forscher (Dr. Karl Reicher) hatte die originelle Idee, einige Tausend mikroskopische Gehirnschnitte und zwar jeden einzelnen als totes Bild auf den Kinofilm aufzunehmen, (...). Bei Projizierung dieses Kinofilms erhält man dadurch gewissermaßen ein lebendes Bild des Gehirns." (Der Kinematograph)

Das "Visible Human Project" verfuhr ab 1993 in entsprechend 'archaischer' Weise, indem ein männlicher Leichnam in fast 2000 seriellen Schnitten zerlegt wurde und diese mit einer digitalen Photokamera aufgezeichnet wurde. Als "erster echter digitaler Mensch", der "vollständig" im Computer "weiterleben" würde, wurden in Print und TV-Berichterstattung diese nacheinander aufgerufenen Bilder auf den Computerdisplays gefeiert, obwohl diese bildlogisch den Möglichkeiten der filmischen Animation völlig entsprachen.

Gedeutet wurden diese Bildfolgen als "entmaterialisierter" Flug durch die opake Materialität des Körpers, allerdings nicht als Trick-Film, sondern als seien dies sensationelle Bilder einer erstmalig gelungenen Transformation eines materiellen Körpers zu 'Information'. Wie nun notwendig bilderlose 'Information' nicht nur (in Kino-Tradition) bebildert, sondern auch gedacht wird, möchte mein Vortrag entwickeln. Denn auch ein 'Pictorial Turn' in diesem traditionell bilderbasierten medizinischen Anwendungsgebiet ist in einem spezifischen Problem befangen, wenn die Produktion eines "noch nie Gesehenen" versprochen wird: Bilder des Körperinneren ALS Datenvisualisierung und -manipulation - wobei solch fehlende Differenzierung zwischen Abbildungsmedium und Abgebildetem sich nicht etwa erkenntniskritischen Traditionen aus Medientheorie und -geschichte verdankte (und entsprechende Schlüsse zöge), sondern eher einer strategischen Identifikation von Daten und deren Repräsentation im Wortsinn. Unter der Maßgabe von "Sehen ist Wissen", droht das Bildliche und die medizinische visuelle Kultur 'übersehen' zu werden.