006.png

Uwe Fraunholz

Biotechnologische Surrogate, heißer und kalter Krieg: Einzeller-Eiweiß und Protein-Lücken im "Dritten Reich" und in der DDR

Spätestens seit der Zeit des Ersten Weltkriegs, der Geburtsstunde der deutschen Ersatzstoffkultur, übte das Leitbild der Autarkie erheblichen Einfluss auf die deutsche Innovationskultur aus. Die Kontinuität dieser Orientierung lässt sich in unterschiedlichen Innovationssystemen Deutschlands beobachten, doch während es der Bundesrepublik in den 1960er Jahren gelang, durch zunehmende Integration in die Weltwirtschaft diesen Pfad zu verlassen, verharrte die DDR aufgrund mangelnder Wettbewerbsfähigkeit unfreiwillig in dieser Tradition.

Ausfluss der Autarkieorientierung sind Innovationsaktivitäten im Bereich der Surrogate, sei es im Rahmen der NS-Kriegswirtschaft, sei es als Teil der Aktivitäten zur "Störfreimachung" von Importen aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet in die DDR. Aufgrund der Konsumentenferne der in den Blick genommenen, diktatorischen Innovationssysteme ließen sich Ersatzstoffprojekte im sensiblen Lebensmittelmittelbereich intensiver verfolgen als unter Marktbedingungen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang die Produktion von Einzeller-Eiweiß (Single Cell Protein, SCP), da Einzeller mit Rohstoffen wie Erdöl, Methanol und Molke, mit Abfällen aus Landwirtschaft und Industrie, gefüttert werden können und sich zugleich exponentiell vermehren. Das entstehende Produkt basiert auf billigen Ausgangsmaterialien, weißt eine hohe Nahrungseffizienz auf und lässt sich im industriellen Maßstab herstellen. Allerdings mag die Vorstellung von "Steaks aus Erdöl" befremden und Gesundheitsgefährdungen sind bei direkter Verwendung für die menschliche Ernährung nicht auszuschließen.

1943/44 durchgeführte Ernährungsversuche in den Konzentrationslagern Mauthausen, Dachau und Buchenwald mit einer Mycel-Biosyn-Wurst auf der Grundlage von Sulfit-Ablaugen aus der Zellstoff-Industrie forderten dementsprechend zahlreiche Todesopfer. Dieses Einzellereiweiß-Produkt aus industriellen Abfällen sollte der Truppenversorgung dienen, zu seiner kommerziellen Verwertung gründete die SS gemeinsam mit der Firma Dr. Oetker eine Forschungsgesellschaft.

Seit den 1950er Jahren richtete sich vor dem Hintergrund des Welthungerproblems auch in den westlichen Industriestaaten das Interesse auf SCP. Insbesondere die großen Ölmultis stiegen in die biotechnologische Produktion von Futtermittelzusätzen auf Grundlage von Alkanen und Erdgas ein (Pruteen, Toprina).

Die DDR schloss einerseits an die Erfahrungen der NS-Zeit an, indem sie Einzelleiweiß für die Tierernährung aus Abfällen der Zellstoff-Industrie produzierte, reagierte anderseits aber auf den internationalen Durchbruch bei der Nutzung von Erdöl als Eiweißquelle. Im Rahmen des ambitionierten Erdölprogramms wurde im Petrolchemischen Kombinat Schwedt eine gewaltige Anlage zur Gewinnung von Futtereiweiß errichtet, die nach fast 20jähriger Entwicklungszeit 1980/81 schließlich in Betrieb genommen werden konnte. Damit folgte man dem Beispiel der Sowjetunion, in der in den 1980er Jahren 86 SCP-Kombinate bestanden. Das in Schwedt produzierte Fermosin half zwar Devisen zu sparen, die Produktionskosten lagen aber stets weit über den Weltmarktpreisen für natürliche Eiweißlieferanten wie Soja- und Fischmehl.