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Helmut Maier

Zersplitterte Forschung? Ursachen der erfolgreichen Mobilisierung der NS-Rüstungsforschung bis 1945

Bei der Bilanzierung der Rüstungsforschung des NS-Systems stehen sich bislang zwei wesentliche Lesarten gegenüber, die in ihren Begründungszusammenhängen allerdings widersprüchlich scheinen. Zum einen sei - trotz der zum Teil verschwenderischen Ausstattung - die Mobilisierung der Wissenschaften für den Kriegseinsatz gescheitert, weil die Forschung zersplittert geblieben sei. Das Fehlen einer einzigen und zentralisierten Forschungsführung habe zu einem Übermaß an Doppelarbeit und einer Verschwendung der Ressourcen geführt. Die Priorisierung der Forschung auf ´wirklich´ kriegswichtige Vorhaben sei gescheitert. Und nicht zuletzt die Geheimniskrämerei zwischen den Forschungskomplexen habe die erfolgreiche Mobilisierung verhindert.

Betrachtet man dagegen die Ergebnisse der NS-Rüstungsforschung, tauchen eklatante Widersprüche auf. Bis 1945 wurde ein Arsenal von zum Teil futuristischen Waffensystemen entwickelt. Die Siegermächte setzten nach Kriegsende alles daran, sich nicht nur dieser neuen Technologien zu bemächtigen, sondern verlagerten die zugehörigen Forschungs- und Entwicklungsteams in ihre eigenen Forschungsstätten. Tausende von NS-Rüstungsforschern arbeiteten in der Folge gemeinsam mit ihren internationalen Kollegen an den Rüstungstechnologien des Kalten Krieges. Es stellt sich also insgesamt die Frage, warum trotz des Scheiterns der Mobilisierung die Ergebnisse der NS-Rüstungsforschung einen international derart hohen Stellenwert erreichen konnten.

Der Vortrag macht sich zur Aufgabe, die Mobilisierung der NS-Rüstungsforschung aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Im Zentrum steht dabei der Befund, daß die verschiedenen Komplexe der Rüstungsforschung über ein Kollektiv von wissenschaftlichen Leistungsträgern der Mittelinstanz verkoppelt waren. Diese agierten - analog zur Rüstungsindustrie - nach dem Selbstverantwortungsprinzip und konstituierten ein System von interinstitutionellen Lenkungsgremien. Thomas Hughes hat am Beispiel des "Manhattan Projects" genau diese Ausschüsse, Arbeits- und Erfahrungsgemeinschaften als "interdisciplinary advisory committees" beschrieben und zur Voraussetzung des erfolgreichen Managements komplexer (rüstungs-)technologischer Vorhaben erklärt.

Legt man nun zugrunde, daß das System der Lenkungsgremien über die Multifunktionäre der Mittelinstanz ein erfolgreiches Regime der Forschungssteuerung zu etablieren vermochten, werden auch die bislang widersprüchlichen Lesarten kompatibel. So gründet sich der Befund der Zersplitterung auf eine Flut von Denkschriften, die sich einem Stakkato von Schuldzuweisungen ergehen. Tatsächlich lieferten sich die politischen Spitzen der Forschungskomplexe im Berliner Zentrum einen erbitterten Krieg der Denkschriften, um einen größeren Teil der knappen Ressourcen zu ergattern. Betrachtet man dagegen die Ebene der Mittelinstanz, entsteht ein überraschendes Bild: Genau jene Forschungskomplexe, deren Spitzen gegeneinander antraten, waren in den Lenkungsgremien und in vielen Fällen über Doppel- und Mehrfachfunktionen der Leistungsträger in einer Person miteinander verkoppelt. Sie ermöglichten einen fast ungehinderten Problem- und Wissenstransfer zwischen den angeblich abgeschotteten Komplexen der Rüstungsforschung. Damit wird insgesamt plausibel, daß trotz des Kompetenzgerangels auf der höchsten forschungspolitischen Ebene, das auch nicht bestritten werden soll, die Mobilisierung der Forschung insgesamt doch erfolgreich sein konnte, so, wie es das Verhalten die Alliierten nach Kriegsende eindrucksvoll bestätigte.