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Verena Witte

Die Potentiale des Lebendigen und die Krise des Subjekts: zur Entstehung neuer Rationalitätsformen und Geschlechterwahrnehmungen vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges

Getragen von der Krisenrhetorik der Jahrhundertwende setzte in der Biologie um 1900 eine Theoriediskussion ein, deren Kern die Neuverhandlung des Verhältnisses von Mensch und Maschine war und die auf die besonderen Potentiale des Lebendigen und damit eines als weiblich konnotierten Bereichs abhob. Das mechanistische Weltbild, welches auf symbolischer Ebene mit der idealtypischen Männlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft korrespondierte, schien vor dem Hintergrund der als ambivalent wahrgenommenen Moderne in seiner Rationalität der Erforschung des Organischen nicht angemessen zu sein. Insbesondere Neovitalisten, als deren prominentester Vertreter der Biologe Hans Driesch gelten kann, setzten der "Maschinentheorie des Lebens" eine Rationalität entgegen, der auf die Fähigkeit des Organismus zu Regeneration betonte. Sie forderten, die "Lebenskraft" des Organischen in der Herangehensweise an die Phänomene des Organischen zu berücksichtigen. Diese Positionen führten zu einer Dichotomisierung der Wissenskultur in der Biologie. Am Beispiel dieser Theoriediskussionen in der Biologie möchte ich darlegen, wie die Krise des männlichen Subjekts insbesondere durch die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges seitdem in einer Epistemologie mündeten, die eine Annäherung zwischen beiden Polen darstellte.

Die Kriegserfahrungen des Ersten Weltkrieges verstärkten diese Entwicklungen - so meine These - in elementarer Weise. Nicht mehr die Subjekte, sondern die Objekte in Form der Technik dominierten die Kriegsführung, während zugleich Frauen ihre Rollen neu zu definieren begannen. Der "industrialisierte" Krieg führte zu einer Krise der Männlichkeit: Männer erschienen als die Hauptopfer des Krieges, der Idealtypus des heroischen Kämpfers schien durch die Situation in den Schützengräben konterkariert. Auf der anderen Seite übernehmen Frauen in der zeitgenössischen Wahrnehmung an der "Heimatfront" die Aufgaben von Männern. Zwar war auch bereits vor dem Krieg eine Zunahme weiblicher Erwerbsarbeit zu verzeichnen gewesen, doch die Erfordernisse der Kriegswirtschaft führten in einem besonderen Maße dazu, dass Frauen in "männliche Sphären" der Erwerbsarbeit eindrangen. Zugleich hob insbesondere die bürgerliche Frauenbewegung darauf ab, dass Frauen mit ihren Talenten und Fähigkeiten ihren Beitrag zum "Projekt Krieg" zu leisten hätten. Weniger weibliche "Sonderinteressen", sondern vielmehr die "Einheit der Nation" standen im Zentrum der Auseinandersetzungen in der bürgerlichen Frauenbewegung. In diesem Zusammenhang organisierte sich die Frauenbewegung zu einem "Frauenheer der Hilfe" (Marie-Elisabeth Lüders) und vermittelte unter den Bedingungen der Kriegswirtschaft zwischen bedürftigen Familien und staatlichen Instanzen. In zahlreichen öffentlichen Bereichen gewannen Frauen so aufgrund der Kriegssituation an Einfluss. Diese Entwicklungen wirkten vor allem auf symbolischer Ebene auf die Wahrnehmung von Weiblichkeit und Männlichkeit zurück. Während Männer, durch den Krieg physisch und psychisch verletzt, aus dem Krieg zurückkehrten, hatten Frauen ihre Position im öffentlichen Raum verbessern können. Die "Polarisierung" der Geschlechtszu-schreibungen hatte durch den Krieg einen einschneidenden Wandel erfahren, der sich zwar zuvor bereits angedeutet hatte, durch den Krieg jedoch enorm beschleunigt wurde.

In der geschilderten Debatte in der Biologie zeigen sich diese Veränderungen nach dem Ersten Weltkrieg in einer neuen Form der Rationalität, die zwischen den beiden Polarisierungen Mechanismus und Vitalismus zu vermitteln suchte. In meinem Vortrag möchte ich die These vertreten, dass die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges und ihre Rückwirkungen auf wissenschaftliche Fragestellungen, Herangehensweisen und Theoriebildungen zu einer Rationalität in der Erforschung des Lebendigen führten, die zu einer Übersetzung zwischen Mensch und Maschine, Natur und Kultur sowie Organischem und Anorganischem führte. Diese Debatte in der Theoretischen Biologie ist zugleich als Übergang von einer mechanistischen zu einer systemtheoretisch-kybernetischen Form der Rationalität zu begreifen, in der Mensch und Maschine in einer zunehmend vereinheitlichten Terminologie beschrieben wurden.

Konzentrieren möchte ich mich auf die Bedeutungen einer solchen neuen Form der Rationalität für die damit einhergehenden Subjektentwürfe und die symbolische Ordnung der Geschlechterverhältnisse. Aus feministisch-konstruktivistischer Sicht möchte ich den geschilderten Veränderungen der Geschlechterverhältnisse und der Rationalitätsformen nachgehen. Welche Rolle spielten die Erfahrungen des Krieges, durch die sich nicht nur die symbolische Ordnung der Geschlechter, sondern auch die reale Position von Frauen in der Gesellschaft änderte, für die neue Wissenskultur, die in der Weimarer Republik im Entstehen begriffen ist? Welche Implikationen hatte und hat eine solche Neuordnung des Wissens über das Lebendige für die symbolische Geschlechterordnung? Welche neue Form von Männlichkeit und Weiblichkeit wird vor diesem Hintergrund konstruiert?