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Lebensberatung digital – what’s the difference?

Sabine Maasen

„Das ist doch, was alle von diesen Blogs wollen: Lebensberatung.“ Lebensberatung - lange Zeit
eine Domäne von face-to-face Interaktion im Beichtstuhl, auf der Couch oder
psychotherapeutischer Settings - findet seit geraumer Zeit anonymere Domänen: die Radio- oder
TV-Beratung, das Handbuch, das Weblog. Zentral für alle Formen beratender Kommunikation ist
das Geständnis – es ist Ausgangspunkt und Vehikel der Beratung. Doch finden wir in der
Blogosphäre dasjenige Geständnis, das die christliche Kultur entwickelt hat?

Die Antwort ist klar: nein und ja. Nein, bei den Geständnissen der Blogger handelt es sich nicht
um das schamvolle, methodisch strukturierte Bekenntnis der Beichte oder der Psychoanalyse. Die
Blogger selbst schicken nicht selten Vorsichtsformeln voraus wie „Es ist kein Geständnis in dem
Sinne, aber ich erzähl einfach mal, was mir letzte Nacht passiert ist (...).“

Die Antwort lautet dennoch auch: Ja – auch das Geständnis in der Blogosphäre ist Resultat und
jüngste Variante einer kulturell evoluierten Kompetenz zur gerichteten Selbstthematisierung.
Gerichtet heißt, dass wir als Mitglieder moderner Gesellschaften dazu in der Lage sind, uns
hochselektiv selbst zum Gegenstand von Beobachtungen zu machen, die wir anderen in
geständnishafter Weise mitteilen können. Diese Kompetenz ist sehr komplex und stellt hohe
Anforderungen an uns, die die oftmals banale Äusserung und ihre kursorische Form leicht
verdeckt: Wir vermögen uns inhaltlich sehr spezifisch über uns äussern (z.B. über unseren
Körper, unsere Ängste oder Gefühle); wir tun dies medienspezifisch (nicht nur Internetgerecht,
sondern auch formatgerecht: Blogs, Chats oder Foren) und kommunikationsspezifisch (die
Sprache und Kommunikationsroutinen der virtuellen Community treffend – z.B. durch schnelle
Kommentare). Mit dem Bloggen vollzieht sich eine medienspezifische Evolution der
Selbstbeobachtung: Es entwickelt sich eine dem Stand des Redens über sich angepasste Technik
der Selbstdarstellung ebenso wie ein dem Stand der Technik angepasstes Reden über sich. Beides
kulminiert in der Ausweitung und Differenzierung der Selbststeuerungskultur.

Anhand eines Vergleich von aktuellen Handbüchern und Weblogs zur Lebensberatung werde ich
zum einen die medienspezifischen Formen der Selbstthematisierung herausarbeiten und zum
anderen die Funktionalität einer differenzierten, medial geprägten, aber auch medial forcierten
Kompetenz zur Selbstbeobachtung für unser Leben in der neoliberalen Gesellschaft andeuten:
Wissenschaft (v.a. Psychologie und Medizin) und Technik (u.a. des Internets, des Bloggens)
vermitteln sich hier gewissermaßen en passant als Implikation des wachsenden Drucks zur Selbststeuerung.