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„The Telegraph Plateau“: Der Telegraf als Organ der Ozeanforschung

Christian Holtorf

Zwischen Irland und Neufundland, behauptete der amerikanische Ozeanograph Matthew F.
Maury 1855, liege unter Wasser eine flache Hochebene, auf der so gut wie keine Strömungen
feststellbar seien. Durch ihre herausgehobene und ruhige Lage bilde sie eine natürliche
Verbindung zwischen Europa und Amerika und sei für die Verlegung eines transatlantischen
Telegrafenkabels wie geschaffen. Maury nannte seine Entdeckung auf dem Grund des Meeres
daher „Telegraph Plateau“. Maurys Veröffentlichung erlebte trotz vieler Nachlässigkeiten hohe
Auflagen und verbreitete den Begriff „Telegraph Plateau“ in Amerika und England. Die
öffentliche Aufmerksamkeit ging mit dem Interesse der britischen und amerikanischen
Regierungen einher, zusätzliche Schiffe für die Erforschung des Atlantiks auf der für das Kabel
geplanten Strecke zur Verfügung zu stellen. Die elektrische Telegrafie wurde auf diese Weise in
mehrerer Hinsicht zum Organ der Ozeanforschung:

1. Telegrafengesellschaften und Nachrichtenbüros berichteten besonders ausführlich über die
Fortschritte der Unterseekabel, um die Überlegenheit ihrer Kommunikationsverbindungen im
Wettstreit mit anderen Nachrichtenwegen darstellen zu können. Maurys Erkenntnisse schienen
die Machbarkeit des Projektes nachzuweisen. Der Nachrichtenmarkt entstand auf diese Weise
selbst erst mit Hilfe des technischen Wettlaufs um die zuverlässigsten Verbindungen über den
Atlantik.

2. Maury Expertise für das transatlantische Telegrafenkabel diente auch der Rechtfertigung der
von ihm begründeten wissenschaftlichen Meeresforschung. Ihre Nützlichkeit wurde bei
zahlreichen öffentlichen Würdigungen und Darstellungen der Telegrafentechnik anerkennend
erwähnt. Die publizistische Präsenz von Tiefseekabel und Meereswissenschaft verschaffte beiden
rasch eine große politische und ökonomische Bedeutung.

3. Die Ozeanographie zog auch deshalb öffentliches Interesse auf sich, weil sie selbst zum
Medium einer unbekannten Natur wurde. Maury übertrug das in Medizin, Ökonomie und
Soziologie vorherrschende Erkenntnismodell auf das Meer: ein System zirkulierender
Strömungen verbinde seine Teile organisch zu einem Ganzen. Weil Wasser zirkulierte und das
Meer ständig in Bewegung sei, so glaubte man, könnten auch auf seinem Grund elektrische
Ströme durch einen Draht fließen.

4. Die durch das Kabel gelangenden Nachrichten beschäftigten nicht zuletzt Schriftsteller und
Karikaturisten, die sich den Meeresboden vorzustellen versuchten. Nicht selten waren Fantasien
über Fische, die durch das Kabel untereinander oder mit Menschen kommunizieren könnten. So
wurden über das transatlantische Telegrafenkabel auch Vermutungen in die Öffentlichkeit
transportiert, die noch aus der Zeit vor der wissenschaftlichen Meeresforschung stammten.
Der Beitrag der Ozeanografie zur Verlegung des ersten transatlantischen Telegrafenkabels in der
Mitte des 19. Jahrhunderts zeigt, so lässt sich zusammenfassen, bereits wesentliche
Charakteristika der Beziehung zwischen Technik und Öffentlichkeit bis heute: die Abhängigkeit
der Medien von Technik, den Gewinn öffentlicher Legitimation durch Anwendungsorientierung,
die Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Ökonomie, die Beliebtheit von Metaphern und
Analogieschlüssen in der Öffentlichkeit sowie die Gleichzeitigkeit ungleichzeitiger
Vorstellungen.