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Wladimir Velminski

Die emotionale (Ver-)Messung. Telepatische Forschung in der frühen
Sowjetunion

„Stellen Sie sich die Poliklinik der nahen Zukunft vor. In den Behandlungsraum kommt ein
Patient. Die Apparate registrieren das Elektro-Auragramm seines Gehirns, Herzens, der Nerven,
Muskeln und inneren Organe und senden die ermittelte Information an eine elektronische
Diagnose-Maschine, die, nachdem sie die Erkrankung ermittelt hat, die entsprechende
Behandlung bestimmt. Das alles passiert in wenigen Sekunden, der Patient muss sich nicht mal
ausziehen.“ Diese Zeilen sind dem Artikel „Biologische Verbindung funkt“ entnommen, der
1968 in der weit verbreiteten sowjetischen Zeitschrift „Technik der Jugend“ erschienen ist. In der
Zeitschrift berichten drei Forscher des „Laboratoriums für physiologische Kybernetik“ über ihre
Forschung der letzten 20 Jahren und deren phänomenales Ergebnis, das elektrische Feld eines
Nervensystems mit einem Aurathron in einem Abstand von 25cm zu messen. Neben den
telepathischen Praktiken und Prozessen, die in abgeschlossenen wissenschaftlichen Räumen
stattfinden, führen zahlreiche Texte aus den ‚Laien-Laboratorien’ in der Öffentlichkeit zu jenen
Wechselwirkungen, in denen die Telepathie ihre Konturen findet. Die Öffentlichkeit ist somit
kein Ort, der jenseits eines elektromagnetischen Gedankenstrahls liegt, der einen Raum genuin
wissenschaftlicher Aktivität von einem Diffusionsraum wissenschaftlicher Ergebnisse abgrenzt,
sondern sie bildet vielmehr ein Feld der interferierenden Durchmischung wissenschaftlicher wie
außerwissenschaftlicher Diskurse. Diesen Topos der übertragenden Emotionen, der die
wissenschaftliche wie auch außerwissenschaftliche Publizistik und Ikonographie der Telepathie
beherrscht hat, möchte ich in dem Vortrag diskutieren. Die Romane, auf die ich mich dabei vor
allem beziehe, sind Aleksandr Romanovi_ Beljaevs (der als einer der Begründer der
populärwissenschaftlichen Literatur in der Sowjetunion gilt) „Weltherrscher“ aus dem Jahr 1929
und der zwei Jahre vorher erschienene Roman „Radiogehirn“, der von Beljaevs Namensvetter
Sergej Michajlovi_ (Beljaev) geschrieben wurde. Ich möchte zeigen, dass zwischen Literatur,
Wissenschaft und medienanalytischen bzw. auch medienkritischen Äußerungen Signifikanten
kursieren, die diese unterschiedlichen Äußerungsfelder miteinander verbinden. Dabei geht es mir
nicht um das zweifellos wichtige Problem, welchen Einfluss Wissenschaft und die sich neu
entwickelnden Medien auf die sie nutzenden Subjekte hat, sondern um einen kulturellen
Komplex, in dem diese Diskurse versammelt sind, die Auskunft über die Beschaffenheit von
Wissen geben können. Wissen wird in dieser Perspektive als ein Gefüge aus Aussagen aufgefasst,
die die benannten Felder symbolischer Produktion miteinander teilen.