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Verwissenschaftlichung als Verdrängungsprozess

Frank Uekötter

In landwirtschaftlichen Lehrbüchern wird der Anstieg der Hektarerträge
im 20. Jahrhundert gewöhnlich als Beleg für den Erfolg
wissenschaftsbasierter Agrarproduktion präsentiert. Dank systematischer
Nutzung der Erkenntnisse von Züchtungsforschung und Pflanzenernäh-rung,
so das gängige Memento, konnte die Produktivität ein historisch
präzedenzloses Maß erreichen. Die wissensgeschichtliche Analyse, die
dieser Beitrag präsentiert, zeichnet demge-genüber ein differenzierteres
Bild. Vor allem zeigt er, dass die vorgebliche Verwissenschaftli-chung
tatsächlich einen sehr selektiven Charakter besaß. Der Blick richtete
sich vor allem auf jene Wissenselemente, die einen kurzfristigen
Produktivitätsgewinn versprachen – und das waren insbesondere die vier
Kernnährstoffe Kalk, Kali, Stickstoff und Phosphorsäure. Wäh-rend deren
optimale Dosierung zum Gegenstand intensiver Forschung wurde, gelangten
die biologischen Grundlagen der Bodenfruchtbarkeit tendenziell aus dem
Blick. Über mehrere Forscher- und Beratergenerationen hinweg setzte sich
so sukzessive das Bild einer Düngung durch, die im wesentlichen mit der
Bereitstellung der notwendigen chemischen Substanzen bestand; der Boden
erschien da nur noch als eine Art Zwischenspeicher von
Pflanzennährstof-fen auf dem Weg von der chemischen Fabrik zum
pflanzlichen Produkt. Der Beitrag disku-tiert die Ursachen dieser
bemerkenswerten Selektivität der Wissensbasis und schließt mit ei-nem
Ausblick auf dessen ökologische Implikationen. Zugleich will er den
heuristischen Wert demonstrieren, das Produktionswissen in der Analyse
des landwirtschaftlichen Wandlungs-prozesses im 20. Jahrhundert als
Faktor sui generis zu betrachten. Die Intensivlandwirtschaft entstand
nicht einfach aus politischen und ökonomischen Zwängen, sondern war auch
das Resultat einer spezifischen wissensmäßigen Programmierung.