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Kybernetik als technisch bedingte Wissenschaft und als wissensbasierte

Philipp Aumann

Die Kybernetik stellte in ihrer historischen Ausprägung in der
Bundesrepublik Deutschland der 1950er und 1960er Jahre ein Hybrid an der
Sphärengrenze von Wissenschaft und Technik dar. Sie war auf beider
Aufgaben zugeschnitten, also auf die Produktion von Wissen bzw. die
Produktion von technischen Verfahren und Artefakten, und unterlag den
jeweils spezifischen Mechanismen beider Sphären. Dementsprechend ist sie
als gleichermaßen wissenschaftliches wie technisches Konzept zu
beschreiben, mit dessen Hilfe Wissen produziert und technische Verfahren
und Artefakte entwickelt wurden. Dabei fand kein linearer Transfer von
Wissen statt, sondern es bildete sich ein heterogenes, multifaktorielles
System zwischen personell und intellektuell abgegrenzten Räumen heraus,
die sich wechselseitig beeinflussten.

Ein besonders prägnantes Fallbeispiel für diesen Prozess bietet die
"Lernmatrix" Karl Steinbuchs, eine elektronische Schaltung, die den
Bedingten Reflex nach Pawlow nachbilden und dadurch einerseits die
Computertechnik verbessern, andererseits als Modell für menschliche
Nachrichtenverarbeitung dienen sollte. Sie wurde um 1960 entwickelt und
1963 in der Zeitschrift "Kybernetik" ausführlich vorgestellt (Steinbuch,
Karl: Die Lernmatrix, in: Kybernetik 1 (1961/1963), S. 36-45). Bald
spielte sie als Artefakt keine Rolle mehr, weil die Modellierung von
organischem Verhalten auf Hardware durch die Programmierung von Software
abgelöst wurde. Ihr blieb aber der Charakter einer fragengenerierenden
und netzwerkbildenden Kraft; sie wurde zum "technischen Ding", das nach
Hans-Jörg Rheinberger neue "epistemische Dinge" (s. Rheinberger,
Hans-Jörg: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte
der Proteinsynthese im Reagenzglas, ND Frankfurt a.M. 2006, bes. S.
27-34) hervorzubringen verhalf. Solche "epistemischen Dinge", also
Erkenntnisse jeglicher Art, ob neue Forschungsfragen oder Theorien über
menschliche Nachrichtenverarbeitung, erschienen umgekehrt aber als
Grundlage, Vorbild oder Bedingung für die Weiterentwicklung des Modells
Lernmatrix, wurden also zu technischen Dingen für den
technisch-epistemischen Prozess, in dem herauszufinden war, wie ein
technisches Artefakt zu entwickeln oder zu optimieren sei.

Im Erkenntnisstreben der Kybernetik sollten in diesem Sinne idealerweise
einheitlich, gleichzeitig und in gegenseitiger Bedingtheit neues Wissen
genauso wie neue Artefakte entstehen. Die Geschichte der Lernmatrix
zeigt, wie sich dieser epistemische Prozess vollzog, in dem die
wissenschaftliche und die technisch-wirtschaftliche Sphäre personell,
institutionell und inhaltlich in intensiver Wechselwirkung standen.
Wissenschaft und Technik gingen in der Kybernetik Hand in Hand.