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Das Handbuch der Architektur: Chancen und Grenzen der Digitalisierung

Uta Hassler, Petra Gerlach

Die Rezeptionsgeschichte des "Handbuchs der Architektur" zeigt
beispielhaft, wie gesellschaftlicher und technischer Wandel zu Verlusten
älterer Wissensbestände führt: Zugewinne an neuem Fachwissen bedingen
offenbar auch "Nicht-mehr-Wissen".

Das "Handbuch der Architektur" ist die wichtigste Enzyklopädie des
Bauwesens. Die Reihe umfasst insgesamt 142 Bände und erschien zwischen
1880 und 1943. Seit dem Paradigmenwechsel zur Moderne wurde die bis
dahin für Lehre und Baupraxis als Standardwerk geltende Serie jedoch
nicht mehr fortgeschrieben. Obwohl sie in den Bereichen Bautechnik und
Baukonstruktion viele, bis heute gültige Darstellungen enthält, hat die
bis in die 1970er Jahre andauernde, pauschale Ablehnung der Baukunst des
Historismus, aber auch des Wissenschaftsverständnisses der älteren
Architektengeneration und ihrer Lehr- und Vermittlungskonzepte die
Überlieferungskontinuität gebrochen.

Die Möglichkeiten einer Neuerschließung dieses "Wissensspeichers" wurden
gemeinsam mit Informatikern untersucht. Dazu wurde beispielhaft ein
Teilband mit baukonstruktivem Schwerpunkt in ein Wiki-System übernommen.
Auf inhaltlicher Ebene hat sich dabei die Notwendigkeit umfangreicher
Kontextbildung bestätigt: Die unkritische Übernahme von
Einzelinformationen, die in der Datenbank schnell und scheinbar
zuverlässig ermittelt werden können, führt zu Fehlinterpretationen.
Unkommentiert liefert die digitale Umsetzung des Fachbuchs nur dem mit
umfangreichem Vor- und Kontextwissen arbeitenden Benutzer sinnvolle
Erkenntnisse. Deshalb wurde das System erweiterungsfähig angelegt:
Zusatzinformationen können, ohne die Originaldaten zu verfälschen,
ergänzt, modifiziert und mit anderen Nutzern diskutiert werden.

Das breite, implizite Wissen, das die Autoren des "Handbuchs der
Architektur" bei ihren zeitgenössischen Lesern als selbstverständlich
voraussetzten, ist jedoch nur bruchstückhaft überliefert worden: Die
nach 1945 in der Breite einsetzende Industrialisierung des Bauens hat
vor allem die Weitergabe handwerklichen, vorzugsweise in Praktiken und
Materialien gebundenen Fachwissens abgeschnitten. Schon nach etwa
sechzig Jahren ist hier ein weiter Bereich des "Nicht-mehr-Wissens"
entstanden, der sich in Zukunft voraussichtlich weiter vergrößern wird
und mühsamer Wiederannäherung bedarf. Zur Diskussion dieser nicht nur
das Bauwesen betreffenden Problematik will das Referat anregen.