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Raum - Wissen - Medien
Veranstalter: Dorit Müller / Sebastian Scholz, Graduiertenkolleg „Topologie der Technik“ der Technische Universität Darmstadt

Datum, Ort: 27.11.2009-28.11.2009, Darmstadt

Bericht von: Daniela Fleiß, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Universität Siegen
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Bei den in den letzten Jahrzehnten auftretenden unterschiedlichen Paradigmen spielt neuerdings das des Raumes in den Sozial- und Kulturwissenschaften und in bescheideneren Ansätzen auch in der Geschichtswissenschaft als neue Beschreibungs- und Analysekategorie eine Rolle. Die Kategorie des Raumes bietet die Möglichkeit, Abläufe, Ereignisse und Ergebnisse nicht nur in ihrer zeitlichen Dimension zu begreifen, sondern ebenso auf ihre räumliche Bedingtheit hin zu untersuchen. Auf dieser Basis fragte die im Rahmen des Graduiertenkollegs „Topologie der Technik“ an der Technischen Universität Darmstadt veranstaltete interdisziplinäre Tagung „Raum – Wissen – Medien“ nach dem Wechselverhältnis von räumlichen Ordnungen und Wissenskonstitution und deren medialer Bedingtheit. Die Veranstalter Sebastian Scholz und Dorit Müller erläuterten, dass jede Wissensordnung eigene Darstellungsoptionen ausbilde, die das Wissen wiederum prägten. Sie betonten, dass diese Konzepte, die bisher nur einzeln betrachtet worden seien, in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit – symbolisiert durch die Bindestriche im Titel der Tagung – zwar die Komplexität der Untersuchung erhöhten, jedoch auch völlig neue Analysemöglichkeiten eröffneten. Ziel der Tagung war demnach, die Frage nach der Operationalisierbarkeit von Raum zu klären, die analytischen Qualitäten des Raumbegriffs auszuloten und die Möglichkeiten und Grenzen topologischer Beschreibungsverfahren festzumachen, was nicht zuletzt für die Geschichtswissenschaft interessante neue Forschungsansätze und Analyseverfahren bieten kann.

Um dieses ambitionierte Ziel zu erreichen, stand die Erörterung, wie sich unterschiedliche Wissensformen räumlich organisieren und welche Konsequenzen sich daraus für die Beschreibung und Analyse der jeweiligen Wissensprozesse ergeben, im Mittelpunkt der Vorträge der drei Sektionen „Wissensräume – Raumwissen“, „Raummedien – Medienräume“ und „Digitalisierte Wissensräume“. Da die Einteilung der Vorträge durch die Veranstalter selbst noch als vorläufig bezeichnet wurde und da dieser Bericht besonders aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft die Chancen der in Darmstadt präsentierten neuen Ansätze würdigen möchte, werden im Folgenden nicht alle Vorträge chronologisch behandelt, sondern übergreifende Schwerpunkte gesetzt.

Die Medienwissenschaftlerin CHRISTINE HANKE (Universität Istanbul) und die Kulturwissenschaftlerin DANIELA WENTZ (Bauhaus-Universität Weimar) legten zu Beginn der Tagung mit ihren Vorträgen zu „Epistemischen Räumen des Sichtbaren“ bzw. „Zum epistemologischen Status des Diagrammbegriffs in der Wissenschaftstheorie und bei Foucault und Deleuze“ eine bedeutsame theoretische Grundlage für die weitere Forschung zum Phänomen der medialen Raumkonstruktion. Raum stellte in Hankes Ausführungen eine mediale Anordnung dar, die Wissen erschafft und bedingt. Der beispielhafte Raum für diese Annahme sei das Labor, wie es etwa die Foucaultsche Studie über das Panopticon zeige.[1] Besonders sie mache die Macht von Raumkonstruktionen über die Realität sichtbar. Diese Macht liege insbesondere darin, dass im speziellen Raum spezielles Wissen generiert werde. Im Weiteren erläuterte Hanke, dass die Art des Wissens zudem stark von seiner Art und Weise der Visualisierung abhänge. Als Beispiel führte sie unter anderem die statistische Datenauswertung an, die durch die Art der Darstellung Wissen auf spezielle Weise generiere. Eine ähnliche Argumentation verfolgte Daniela Wentz, die ebenfalls das Panopticon analysierte. Sie erkannte es als Diagramm eines Machtmechanismus, wobei sie Diagramme als graphische oder kartographische Darstellungen definierte, die Wissen transformierten. In der Diskussion dieser Thematik wurde von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern ausführlich die Problematik, dass die Art der Visualisierung, die Selektion und Anordnung von Daten auch immer eine bestimmte Form der Aufmerksamkeitslenkung bewirke, erörtert.

Besonders interessant aus der Sicht von Historikern stellten sich die Vorträge von Fachkolleginnen und Fachkollegen dar, die beispielhaft zeigten, wie sich diese Disziplin die Theorien um Raum, Medien und Wissen zunutze machen bzw. selbst etwas zu ihrer Weiterentwicklung beitragen kann.

Der Wissenschaftshistoriker NILS GÜTTLER (Freie Universität Berlin) untersuchte in seinem Vortrag „Lebensraum. Frühe pflanzengeographische Karten und die ‚natürliche Ökonomie der Gewächse’“ die im späten 18. Jahrhundert von dem französischen Naturforscher Jean-Louis Giraud-Soulavie initiierte Disziplin der Pflanzengeographie. Diese neue Wissenschaft verband das Wissen um den Lebensraum verschiedener Pflanzen mit einer speziellen Art der kartographischen Darstellung und schuf und nutzte so ein spezifisches Verhältnis von Raum, Wissen und Medium. Dieses half dann einerseits dabei, die Forschungsergebnisse für ein breites Publikum sichtbar zu machen, stand andererseits aber auch dem Forscher als Denk- und Analysehilfe zur Verfügung. Nicht zuletzt, so zeigten die Analysen Güttlers, hatten die Ergebnisse dieser Forschungsmethode wiederum Rückwirkungen auf den realen Raum, halfen sie doch in der Praxis, durch die Auswahl der richtigen Pflanzen für das jeweilige Klima den Ackerbau zu optimieren. Güttler, der mit seinem Vortrag einen Ausschnitt aus seinem Dissertationsprojekt präsentierte, gelang es, sich mit seinen Ausführungen nahezu perfekt an die Leitfragen der Tagung nach dem Verhältnis von Raum, Wissen und Medien anzulehnen. Obwohl er ein sehr spezielles Thema unter wissenschaftsgeschichtlichen Fragestellungen behandelte, stellte er dieses auf interdisziplinär fundierte, theoretische Füße.

Die Technikhistorikerin SONJA PETERSEN (Technische Universität Darmstadt) stellte in ihrem Vortrag über „Historische Quellen als Medien zur Konstitution von Wissensräumen“ die These, dass durch Quellen verschiedenartige historische Wissensräume zu erschließen seien, vor. Hierbei bezog sie sich besonders auf das Technikwissen seit der Industrialisierung. Bei der Untersuchung des Verhältnisses von Technikwissen und Raum machte Petersen drei Kategorien von Räumen aus: Orte des Wissens, z.B. Notizbücher und Manuskripte; Räume des Wissens, z.B. Fachzeitschriften und Stätten des Wissens, z.B. Labore. Ihre Kategorien prüfte die Historikerin schließlich am Beispiel des Klavierbaus im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ob die Historikerin bei der Analyse Ihres Quellenmaterials mit Hilfe dieser Kategorien tatsächlich zu Erkenntnissen kommt, die über die mit klassischen interpretatorischen Mitteln der Geschichtswissenschaft hinausgehen, muss offen bleiben.

Eine Analyse der Medien zur Grenzsicherung im digitalen Zeitalter wagte die Professorin für Geschichte und Ästhetik der Medien HEDWIG WAGNER (Uni Jena). Dabei nahm sie Bezug auf ein kurz vor der deutschen Wiedervereinigung konzipiertes Grenzsicherungssystem der DDR und das EU-Grenzüberwachungssystems FRONTEX und demonstrierte so den Wandel im Verständnis des Raumes „Grenze“.

Auch andere Referenten wandten sich historischem Material zu, um daran die Verbindung von Raum, Wissen und Medien zu erforschen. So untersuchte die Mitveranstalterin DORIT MÜLLER (Darmstadt) in ihrem Vortrag die „Antarktis als medialen Wissensraum“. Darin verfolgte sie die These, dass erst im Zuge eines komplexen Zusammengreifens medialer Techniken der Wissensraum Antarktis erschaffen wurde. Dazu stellte die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin verschiedene Expeditionen an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in die Antarktis vor und analysierte, welche technische Ausrüstung zur medialen Dokumentation mitgeführt und wie das Wissen um die Antarktis schließlich präsentiert wurde. Dabei stellte Müller fest, dass man der Dokumentation der Expeditionen einen hohen Stellenwert beigemessen hatte. Diese erfolgte selbst unter widrigsten Verhältnissen durch Messungen, Beobachtungen und Auswertungen in Form von Texten und Karten und durch technische Aufzeichnungsmedien wie den Film. In der anschließenden Präsentation der Ergebnisse vor Publikum, durch die die Expeditionen großteilig mitfinanziert wurden, zeigte sich dann der Prozess der Wissenserhebung selbst als Narrativ und von der Realität mit ihren Rückschlägen und Problemen abgekoppelt.

Um ganz andere Wissensräume ging es im Vortrag von KATHRIN PETERS (HBK Braunschweig). Die Kunst- und Kulturwissenschaftlerin sprach unter dem Titel „Gebäude ziehen vorüber. Über mediale Topografien“ über die Stadt als Schichtung von Bedeutung. Dazu orientierte sie sich an den Ausführungen von Roland Barthes aus den 1950er-Jahren zum Thema, indem sie den Satz Barthes „Die Signifikate ziehen vorüber, die Signifikanten bleiben“[2] aufgriff. Auf diese Weise stellte sie sich gegen die Vertreter der Moderne, die davon ausgingen, dass Städte die Bewohner formten, und stellte stattdessen anhand verschiedener städteplanerischer Beispiele heraus, dass die Stadt erst durch die Bewohner erzeugt werde. Damit präsentierte sich Peters als Vertreterin einer medialen Topografie, die davon ausgeht, dass die Bedeutung erst durch die Medien offengelegt werde, was sich durchaus auch als vielversprechender Ansatz für die Geschichtswissenschaft erweisen könnte.

Der Kultur- und Medientheoretiker RAMÓN REICHERT (z.Z. Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien) zeichnete mit seinen Ausführungen über „Die Wissensräume der Finanzmärkte" die Entstehung und Bedeutung der Dow-Theorie nach. Er erläuterte die Metaphorik, mit der die Analysemethoden der Finanzmärkte arbeiten, und formulierte die These, dass die Metaphorik Auswirkungen auf die Handlungen der Finanzmärkte selbst habe. So arbeite die Dow-Theorie, mit deren Hilfe Vorhersagen über den Kursverlauf von Aktien möglich sind, mit Analogien aus dem Bereich der Wettervorhersage (Barometer), wodurch die Vorherrschaft der Medien über die Finanzmärkte gewahrt werde. Reichert stellte so die Börse als einen spezifischen Wissensraum vor, in dem besonderes Raumwissen mithilfe einer bestimmten Metaphorik entworfen werde. Der Abendvortrag von JÖRG DÜNNE (Universität Erfurt) beschäftigte sich unter anderem mit Seekarten der Frühen Neuzeit, die er als „Raum-Skripten“ – so auch der Titel seines Vortrags betitelte. Unter Raum-Skripten verstand der Referent schriftliche Raumaufzeichnungen, die zur Aufführung bestimmt seien und damit kulturelle Räume produzierten.

Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildete die Analyse der durch Filme oder digitale Medien geschaffenen Räume. Obwohl sich die Ergebnisse nicht auf den ersten Blick in die Überlegungen und Arbeitsweisen eines Historikers überführen lassen, lieferten HERBERT SCHWAAB (Uni Regensburg) und MARTIN SCHLESINGER (Uni Bochum) doch faszinierende Überlegungen, inwieweit Filme spezielle Wissensräume erschaffen und welche Bedingungen diesen Wissensräumen zugrunde liegen.

Welche Wissensformationen in Strategiespielen, speziell in Computerstrategiespielen, enthalten sind, untersuchte schließlich ROLF NOHR (Uni Braunschweig) mit dem Vortrag über „Strategiespiele und Diskurse geopolitischer Ordnung“. Dabei ging er davon aus, dass durch Strategiespiele ein Raum geschaffen werde, der „die Auftritte des Krieges sinnlich erfahrbar macht“. Überhaupt sei es die Dominanz des Raumes, die solche Spiele interessant mache, da die handlungsleitenden Strategien des einzelnen Spielers in Raum übersetzt würden. Dies geschehe, in dem der Spieler beispielsweise versuche, besetzten Raum zu befreien, Ressourcen im Raum zu gewinnen oder einen Staat im Raum zu errichten. Als Beispiel führte Nohr das Computerspiel „Age of Empires“ an.

Insgesamt lieferten die Vorträge der interdisziplinären Tagung viele interessante Anstöße nicht nur für die Geschichtswissenschaft, sondern für alle Einzeldisziplinen, die sich mit Interesse der Analysekategorie des Raumes zuwenden. Es kann also mit Spannung erwartet werden, wie diese Ansätze im angekündigten Sammelband zur Tagung noch weiter ausgeführt werden.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Michel Foucault, Surveiller et punir. La naissance de la prison, Paris 1975. Dt.: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 9. Aufl., Frankfurt am Main 1994.
[2] Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt am Main 2003 (d. Erstausgabe 1964, Auszug aus Mythologies, 1957).
ZitierweiseTagungsbericht Raum - Wissen - Medien. 27.11.2009-28.11.2009, Darmstadt, in: H-Soz-u-Kult, 05.02.2010, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=2989.