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Flotte, Funk und Fliegen: Leittechnologien der Wilhelminischen Epoche
Tagungsbericht zur Technikgeschichtlichen Jahrestagung des VDI 2009
Flotte, Funk und Fliegen: Leittechnologien der Wilhelminischen Epoche

26. und 27. Februar 2009 in Düsseldorf

Bericht von: Andreas Desse, B. A., Marko Heckhoff, B. A.

Die Tagung des VDI Bereichs Technikgeschichte versammelte über 60
Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus verschiedensten wissenschaftlichen
Disziplinen, um der Fragestellung nachzugehen, welchen gegenseitigen Einfluss
die Technik und der Staat während der Wilhelminischen Epochen aufeinander
ausübten. Welche Rolle fiel einem Monarchen zu, den die technikhistorische
Forschung zuletzt als den „konstruierenden Kaiser“ (Wolfgang König)
charakterisierte? Welche Perspektiven werden durch neue diskursanalytische
Ansätze eröffnet, um das Kaiserreich auch jenseits der Herausbildung des
"militärisch-industriellen Komplexes" zu erfassen? Die Tagung fand im
FFFZ-Tagungszentrum Düsseldorf statt und wurde unterstützt durch die bewährte
Organisation des VDI (Michael Kussmann).

Nach einer kurzen Einleitung von Prof. Dr. Helmut Maier, dem Vorsitzenden des
Bereichs Technikgeschichte im VDI, stellte Herr Dr. Eckhard Schinkel vom
LWL-Industriemuseum in seinem Vortrag die Verbindung zwischen traditionell
ausgebildeten Schiffbauern der Industrie, dem Militär und der Person Kaiser
Wilhelms II., am Beispiel des Werftdirektors und Gutachters Rudolph Haack
(1833-1909) dar. Der Vortrag eröffnete hier Perspektiven auf die Differenz
zwischen kaiserlich- künstlerischer Vision und technischer Machbarkeit und
Umsetzung, sowie den daraus resultierenden staatlich-strukturellen Problemen.

Darauf folge der Vortrag von Dr. Werner Tschacher von der RWTH Aachen, in
welchem die medienwirksamen Besuche Wilhelms II. in Aachen untersucht wurden.
Dabei wurde herausgearbeitet, dass es auf der einen Seite eine starke
Technikbegeisterung, auf der anderen Seite aber ein Festhalten an
traditioneller Herrschaftsrepräsentation gab. Kritisch wurden diesem
Zusammenhang die Rolle Wilhelms des II. in Bezug auf die Medien hinterfragt.

Prof. Dr.-Ing Eike Lehmann von der TU Hamburg-Harburg stellte in seinem
Vortrag über die Entstehung des wissenschaftlichen Schiffsbaus in Deutschland
anhand zahlreicher technischer Beispiele die Transferleistung zwischen
militärischer und anschließender ziviler Nutzung von Innovationen dar. Er wies
in diesem Zusammenhang auf die besondere Funktion akademischer
Marinebaubeamter für die Verwissenschaftlichung des Schiffbaus, speziell durch
die Anwendung der Festigkeitsforschung, hin.

Dr. Siegfried Buchhaupt fokussierte sich in seinem Vortrag „Felix Lincke
(1840-1917), seine Analyse der Schiffsteuermaschine und Vision der Entwicklung
der Maschine zum Automaten“ vor allem auf die Bedeutung der Schriften und
Visionen des Darmstädter Ingenieurs Lincke bezüglich der Entwicklung von
Servomechanismen und der Automatisierung im 20. Jahrhundert. Lincke erkannte
schon früh, dass die Entwicklungsperspektive der Technik in der
Automatisierung lag. Herr Buchhaupt stellte heraus, dass Lincke mit Rückgriff
auf die Schriften des Philosophen Ernst Kapp eine zunehmende Ablösung des
Menschen von der Maschine prognostizierte. Früh formulierte Lincke auch schon
das Prinzip des Regelkreises, lange bevor die Regelungstechnik dieses Konzept
Mitte des 20. Jahrhunderts ins Zentrum ihrer Betrachtungen stellte.

Dr. Stefan Krebs, TU Eindhoven, untersuchte die Auswirkungen von
Legitimationsdiskursen auf die hüttenmännische Studienreform zu Beginn des 20.
Jahrhunderts. Dabei spielten genau jene rhetorische Figuren eine Rolle, die
Wilhelm II. anlässlich der Eröffnung der TH Danzig proklamiert hatte:
Großmachtstreben und technologischer Vorsprung, hier im Fall des
Eisenhüttenwesens. Hinzu kam die Bedeutung des Fachs für die „vaterländische
Wirtschaft“ im Wettrennen mit der englischen Eisen- und Stahlproduktion.
Bemerkenswert ist, dass Prof. Fritz Wüst – forciert durch den Verein Deutscher
Eisenhüttenleute – geschickt platziert wurde und am Ende als Gutachter für
sein eigenes Fach auftrat.

Dr. Norman Pohl von der TU Freiberg referierte über „Stoffe mit besonderen
Eigenschaften? Zum ökonomischen und kolonialen Kontext chemischer Produktion
in der Wilhelminischen Epoche.“ Pohl veranschaulichte an verschiedenen
Beispielen (Vanillin und Cyanide) die Ziele der chemischen Industrie,
Ersatzstoffe für Naturprodukte aus Übersee zu entwickeln. Gleichermaßen
stellte er aber auch die Bedeutung der Entwicklung chemischer Stoffe zur
Gewinnung von Rohstoffen, wie beispielsweise die der Cyanide für die
Goldgewinnung, und somit die Rechtfertigung für die Intensivierung kolonialer
Aktivitäten heraus.

Die unterschiedlichen Systeme der Luftfahrt leichter als Luft waren Thema von
PD Dr. Rüdiger Haude von der RWTH Aachen. Ihm ging es um diskursive Phänomene
vornehmlich in der öffentlichen Wahrnehmung. Hier kam es zu sehr
unterschiedlichen Aneignungsformen des Luftschiffs: Einerseits aus
sozialdemokratischen Kreisen friedensutopisch konnotiert, andererseits auch
durch die völlige Militarisierung, die schiere Größe und die majestätische
Erscheinung an den Großmacht- und Herrschaftsdiskurs gebunden. Ohne die
Zeppelin-Hysterie wäre die Vollendung der Luftschifffahrt zum Waffensystem gar
nicht möglich gewesen.

Ralf Spicker, M. A. vom Deutschen Museum in München, beleuchtete das
Luftschiff-Thema von einer anderen Seite: Er betonte die Analogien zwischen
dem Flotten- und Luftschiffbau, die nicht nur im Bereich des Vereinswesens
(Deutscher Flottenverein/Deutscher Luftflotten-Verein) augenfällig sind.
Spicker hob die Rolle des Reichsmarineamtes hervor. Hier wurden Prinzipien des
Flottenbaus auf den Luftschiffbau angewandt, da die Reichsmarine ein eigenes
Starrluftschiff zu entwickeln versuchte. Diese Pläne scheiterten jedoch, als
das Marineluftschiff „L 2“ mit dem Marineschiffbaumeister Felix Pietzker an
Bord havarierte. Auch Prof. Johann Schütte setzte auf Methoden, die aus dem
wissenschaftlichen Schiffbau stammten.

Direkt im Anschluss ging Franz Jungbluth, M. A. aus Mannheim, genauer auf den
Schütte-Lanz-Luftschiffbau ein. Er charakterisierte Schütte als politischen
Netzwerker, wogegen Karl Lanz, der Maschinenbauunternehmer, über die nötigen
Verbindungen im großbürgerlich-patriotischen Milieu verfügte. Am Ende
scheiterten die Schütte-Lanz-Luftschiffe aus technologischen Gründen, nicht
zuletzt wegen Problemen mit dem Werkstoff Holz. Wie bei allen
Luftschiff-Ereignissen inszenierten Schütte und Lanz die Flüge als
„patriotische Spektakel.“

M.A. Volker Mende von der TU Cottbus widmete sich in seinem Vortrag
„Allerhöchster Festungsbau – Kaiser Wilhelm II. und die Panzerfrage“ besonders
dem Modellfort, das im Sommer 1893 im Schlossgarten des Neuen Palais in
Potsdam-Sanssouci erbaut wurde. Anhand dieser Anlage wurde der Wandel in der
deutschen Festungsstrategie in den 1880er Jahren verdeutlicht. Auf Bestreben
des Kaisers wurde die technische Seite der Forts modifiziert, sie wurden
elektrifiziert, der neue Baustoff Zementbeton wurde verwendet, und neue
Geschütze mit umfangreicher Panzerung wurden installiert. Auf der
strategischen Ebene wurden die Festen erstmals von den Städten gelöst und
operierten nun eigenständig mit Verbindungen zu benachbarten
Befestigungsanlagen bei der Sicherung von geographischen Schlüsselpositionen.
Herr Mende warb gegen Ende seines Vortrags für die Restaurierung des
Modellforts, welches derzeit, obwohl Teil des Weltkulturerbes „Schlösser und
Gärten Potsdams“, nicht zugänglich ist.

Dr. Alexander Kirdorf aus Köln stellte in seinem Vortrag über „Eisenbeton –
eine deutsche Erfolgsgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts“ die rasante
Entwicklung des Eisenbetonbaus, einer entscheidenden technischen Innovation,
und ihre wichtigsten Akteure vor. Ausgehend von den Patenten des Franzosen
Monier präsentierte Kirdorf den Teilnehmern die verschiedenen Systeme des
Eisenbetonbaus, welche um 1900 auf dem Markt waren, wie sich die deutschen
Unternehmer u.a. durch den Zusammenschluss im Beton-Verein gegen diverse
Patentansprüche wehrten und die Erfolgsgeschichte des Eisenbetons weiter voran
trieben. Es wurde darüber hinaus aufgezeigt, wie der Betonbau, begünstigt
durch den weltweiten Bauboom, zunehmend mit der vorherrschenden
Montanindustrie und dem Eisenbau konkurrierte. Die weltweiten Erfolge
deutscher Bauunternehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts führte Herr Kirdorf
auf die frühe Zusammenarbeit von Staat, Wissenschaft und Industrie zurück. In
der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hatten sich deutsche Unternehmen somit im
Bereich Eisenbetonbau einen technischen und organisatorischen Vorsprung
verschafft.

Dipl.-Pol. Thomas Irmer aus Berlin untersuchte die Rolle des Elektrokonzerns
AEG und dessen System Telefunken. Gegenstand dieser Betrachtung war
insbesondere die Einflussnahme des Kaisers. Ziel dieser Einflussnahme sollte
die rasante Entwicklung einer nationalen Funktechnologie sein, welche sich mit
den Fortschritten Englands durch Marconi messen lassen konnte. Jedoch wurden
auch die Schattenseiten dieser Einmischung, die ökonomischen Probleme und die
technischen und organisatorischen Probleme des Zusammenschlusses im Vortrag
verdeutlicht. Der Referent schloss mit der Feststellung, dass mit ihrer
Nutzung bei der Niederschlagung des Herero Aufstandes im Jahr 1904 die
drahtlose Telegraphie ihre „politische Unschuld“ verloren habe.

Schon in den Diskussionen der Einzelvorträge kam der traditionelle Konflikt
zwischen Diskurs- und kulturalistischen Technikhistorikern auf der einen und
Ingenieur-Technikhistorikern auf der anderen Seite zum Vorschein. Die Frage
steht im Raum, ob die Vernachlässigung der „Hardware“ nicht zu Defiziten in
der Diskursgeschichte führt. Umgekehrt – und auch das hat eine lange Tradition
auf den VDI-Jahrestagungen Technikgeschichte – ist offenkundig, dass das
Kulturphänomen „Technik“ ohne diskursive Ansätze gar nicht zu erfassen ist.
Leittechnologien, gemessen an ihrer ökonomischen Relevanz, waren während der
Wilhelminischen Epoche ganz sicher Kohle, Eisen und Chemie. Gemessen an der
kulturellen Resonanz als die Symbole des technischen „Fortschritts“ rangierten
die Luftfahrt und die Elektrizität an erster Stelle. Gewarnt wurde vor der
allzu voreiligen Annahme, dass es schon vor dem Ersten Weltkrieg zur
Herausbildung des militärisch-industriellen Komplexes gekommen sei. Hier
müssten zuerst die Kriterien genauer definiert werden. Die Beispiele der
Tagung zeigten allerdings vergleichsweise deutlich, dass Militär, Industrie,
das Herrschaftshaus des Monarchen und die wilhelminische Professorenschaft in
einem engen symbolischen wie ökonomischen Tauschverhältnis zueinander standen.