Metropole und Umland. Protokoll vom Verlauf des Gesprächskreises Technikgeschichte 2008 in Berlin
Autoren: Dr. Peter Theissen und Dr. Hermann-Josef Stenkamp
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Termin: Donnerstag, 5. Juni 2008 bis Samstag, 7. Juni 2008
Tagungsort: Luftwaffenmuseum der Bundeswehr, Berlin-Gatow
Organisationskomitee für das Treffen 2008: Dr. Matthias Baxmann, OStFw Hoffmann, Dr. Jürgen Ruby, Dr. Hermann-Josef Stenkamp, Dr. Peter Theißen, Regina Weber M.A.
1) Verlauf des Treffens
Do, 5.6.2008, ab 16:30 Uhr:
Treffen und Anmeldung der Teilnehmer im Luftwaffenmuseum (Gebäude: Tower), Führung durch die Ausstellung bis 18:00 Uhr, anschließend Transfer und Abendessen im Restaurant Casa Italinana da Alberto, Alt-Gatow.
Fr, 6.6.2008, ab 9:30 Uhr
Bei seiner Begrüßung stellte Oberst Dr. Hans-Hubertus Mack, Leiter des Militärhistorischen Forschungsamtes Potsdam, inhaltliche Kernleitlinien des Luftwaffenmuseums vor. Oberstleutnant Kai-Uwe Graaf, Leiter des Luftwaffenmuseums, sprach sich für einen selbstkritischen Blick auf die Geschichte der Luftwaffe in der musealen Aufarbeitung und Präsentation aus. Das Museum sei ein Ort der internationalen Begegnung.
Abschließend teilte Dr. Jürgen Ruby, Luftwaffenmuseum, wichtige Details zum Verlauf der Tagung mit.
Dr. Matthias Baxmann: Der Stoff, aus dem Berlin gemacht ist. Metropolenwachstum und Ressourcen am Beispiel Berlins
In seinem Vortrag stellte Baxmann die Metropolregion Berlin und das brandenburgische Umland mit multimedialer Unterstützung vor. Die Metropolenregion umfasst mehrere innerstädtische Zentren. Das starke Wachstum der Metropole strahlte auf das brandenburgische Umland aus und ließ regionale industrielle Wachstumsschwerpunkte entstehen. Dazu gehören das Finowtal (Eisenverarbeitung, Maschinenbau, Papierproduktion, Kraftwerke), die Niederlausitz (Eisenverarbeitung, Braunkohleabbau und Stromproduktion, Tuchindustrie) sowie eine Konzentration der Baustoffproduktion im Norden Berlins.
Durch frühe Kanalbauten (17. und 18. Jh. „Berlin ist aus dem Kahn gebaut“, angesichts der massenhaften Transporte von Ziegelsteinen zu den innerstädtischen Baustellen), Kunststraßen- und Eisenbahnbau im 19. Jh. wurde die Versorgung der Metropole aus dem Umland gesichert. Selbst die „Spreewaldammen“ sind unter diesem Aspekt zu sehen.
Prof.Dr. Dorothea Schmidt: Die „Herren Mechaniker“ – technisches Wissen, Qualifikation und Wanderschaft
Die Firma Siemens und Halske wurde 1847 in Berlin als Telegrafenfabrik gegründet. Dort wurde eine sehr breite Palette verschiedener Produkte hergestellt, wodurch eine beinahe handwerkliche Fertigungsweise erforderlich war. Dies erforderte qualifizierte Mitarbeiter, die in der Regel im Handwerk ihre Ausbildung erhalten hatten. Um 1900 noch stammte die Hälfte der Mitarbeiter nicht aus Berlin, sondern zum Teil von sehr weit her. Eine hohe Mobilität und geringe Werksverbundenheit werden als Mangel beklagt unter dem Stichwort „Elend der Landstraße.
Was in diesem Zusammenhang kaum jemand mehr weiß und kaum in der Fachliteratur reflektiert wird: Die Wanderung von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz war – analog zu den Handwerksgesellen - auch unter den Facharbeitern weit verbreitet. Die Arbeiter wollten sich zusätzliches Wissen aneignen und so einerseits Zeiten von Arbeitslosigkeit sinnvoll überbrücken, andererseits aber auch ihren Marktwert steigern. Später noch als viele andere große Firmen richtete Siemens erst 1905 eine eigene Lehrwerkstatt ein. Damit wurde die Wanderung der Arbeiter überflüssig. Der Bedarf der Wanderwilligen nach Abenteuer und Naturerlebnis wurde seither durch die Wandervogel-Bewegung bedient.
Dr. Volker Benad-Wagenhoff: Dietrich Uhlhorn: Berlin oder Grevenbroich. Standortentscheidung eines Maschinenbauers in der Frühindustrialisierung
Der Autodidakt Uhlhorn (1764 - 1834) baut 1810 eine Werkstatt für Spinnmaschinen in Grevenbroich und betreibt eine eigene Spinnerei. 1812 baut er eine Kratzenfabrik auf, die später in Konstanz weiter geführt wird. 1817 entwickelt er leistungsfähige Prägemaschinen zum Stanzen von Münzen, woraus sich eine unternehmensinterne und politische Diskussion um den Standort des Unternehmens entwickelt. Während die Regierung eine Bindung an Berlin wünscht, bleibt Uhlhorn letztlich in Grevenbroich, weil Patentstreitigkeiten und Eitelkeiten nicht überwunden werden können.
Mgr. Wladimir Horák, Nicole Hirschler-Horáková: Von der “Schwarzen Perle” zum Problemviertel: Aufstieg - Blüte - Fall - Aufstieg? Als Zyklus industrieller Vorstädte am Beispiel der Gemeinde Hru`´sov bei Ostrava / Tschechien
Die Referenten zeichnen die wirtschaftliche Entwicklung der Gemeinde Hru´`sov bei Ostrave, Tschechien auf. Die Gemeinde wurde 1765 von den Habsburgern gekauft. Sie liegt gleich mehrfach an der Peripherie zwischen Mähren/Schlesien, Preußen/Österreich und dem Detuschen Reich / Polen. Einflüsse aus allen drei Ländern kommen hier zum Tragen. 1842 beginnt dort die Kohleförderung, die eine chemische Fabrik (Soda; Düngemittel) nach sich zieht. Dazu gesellen sich keramische Industrie und eine Waggonfabrik. Ursprünglich ist H. ein kleines Dorf mit 220 Einwohnern, das von der Landwirtschaft lebte. Bis 1910 stieg die Zahl der Einwohner auf 8.0000. Mehrere Hochwässer zerstörten Wohnhäuser und industriell genutzte Areale. Auch der Bau der Eisenbahn und einer Autobahn mitten durch den Ort führten zur Auflösung der Siedlung. Durch wirtschaftliche Rezession, Kriegseinwirkungen und Naturkatastrophen ging die Zahl der Bewohner bis zum Jahr 2001 auf lediglich 560 zurück.
Yair Mintzker, Ph.D. Candidate: Die Entfestigung der deutschen Metropole 1815 - 1860: Wien, Berlin und Hamburg als Beispiele der unstabilen Beziehung zwischen Metropole und Umland im 19. Jahrhundert
Mintzker stellte Ergebnisse aus seinem Dissertationsprojekt vor. Nach differenzierter Begriffsbestimmung stellte er fest, dass sowohl der Begriff, als auch der Vorgang der Entfestigung weitgehend unbekannt ist. Diese baulichen Maßnahmen wurden von Stadtplanung, Architektur und bürgerlicher Ästhetik geleitet und durch politische Entscheidungen beeinflußt. Sie führten zum Verlust der alten “physischen Grenzen” der Städte.
Der Referent betrachtete die Stadtmauern auch als Metaphern städtischen Machtanspruchs und metaphysischer Funktionen. Die Aspekte der technischen wie juristischen Machtabgrenzung kam weniger zum Zuge. Er vertrat die These: Je größer die Stadt, desto später wurde sie entfestigt. Dabei ließ er jedoch technische und statistische Details zur Entwicklung der Städte im Vortrag außer Betracht.
Zur Funktion der Stadtmauer verwies er auf folgende Aspekte: Verteidigung, Rechtsbezirk, Sicherheit, Symbol für die “alte Ordnung”. Diese alte Ordnung behinderte allerdings die freie Entwicklung und den Handel der Städte und stand im Widerspruch zum Bild von Weltoffenheit und Fortschritt.
Abschließend stellte Mintzker fest, dass es zu Stadterweiterungen kam, die jedoch das Schleifen der Mauern verhinderten. Die Kernstädte schienen sich gegen die Instabilität in den neuen Vororten abzuschirmen.
Volker Mende, M.A.: “... durch die Festungslinien der großen Ströme hinreichend gesichert”. Thesen zur verhinderten Großfestung Berlin
Mende stellte zunächst die vier kurbrandenburgischen Landesfestungen Spandau, Drießen, Küstrin und Peitz vor, die von 1559 bis 1609 errichtet wurden. Berlin zählte trotz seiner Hauptstadtfunktion nicht dazu. Eine barocke Planung zur Befestigung Berlins wurde nicht realisiert.
1802 war Berlin lediglich von einer Zollmauer umschlossen, die auch die Vorstädte und Ausuferungen mit einbezog. Bis 1848 entstanden fünf Eisenbahnlinien, die maßgeblich die weitere Stadtentwicklung beeinflußten.
Bis 1848 wurden bedeutende Festungen vor allen dingen im Westen Preußens, im Zusammenhang mit dem Ausbau der Eisenbahnlinien, errichtet.
Für Berlin erfolgte im 19. Jahrhundert die Diskussion über die Errichtungen von 16 Außenfestungen (Moltke) und für Friedrichshain gab es eine Vorplanung für eine derartige Großfeste. Letztlich wurden aber die Planungen durch die schnellen Fortschritte im Eisenbahnbau obsolet. Schon ab 1870 war der große Eisenbahnring um Berlin geschlossen, so daß eine Befestigung nicht mehr sinnvoll war.
Letztlich bestimmte der Eisenbahnbau und der damit mögliche Truppentransport die weiteren militärisch-strategischen Überlegungen, die sich bald auch im Städtebau widerspiegelten.
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa: “Hans Grade 1908 - 2008: 100 Jahre deutscher Motorflug Provinz und Metropole in der frühen Geschichte des Flugwesens am Beispiel Brandenburg / Berlin”
Hans Grade (1878 - 1946) führte am 1.10.1908 den ersten deutschen Motorflug (100 Meter in der Luft) durch. Er war tätig u.a. in Charlottenburg, Grevenbroich, Magdeburg, Borkheide und Johannistal.
Räumliche Dimensionen der Fliegerei: Die Flugplätze waren entweder ehemalige Exerzierplätze von Garnisonen, auf Dauer errichtete Flugplätze (Borkheide, Johannistal und Puchheim) oder sonstige große Plätze (Döberitz). Sie waren für die Flieger und das zu den Versuchen strömende Publikum gedacht.
Personal-nationale Dimension: 1891 vollführte Otto Lilienthal seinen ersten Gleitflug. Die Brüder Wright entwickelten Gleiter, die die Erkenntnisse der Aerodynamik aus Deutschland umsetzen und ihre Apparate mit modernen Triebwerken ausstatten. 1909 bereits trat Grade auf den Plan, der ebenfalls motorisiert flog.
Bereits 1912, also vor dem I. Weltkrieg, nutzte man die Flugbegeisterung der Deutschen, die sich u.a. in der Nationalen Flugspende zur Finanzierung weiterer Entwicklungen niederschlug.
Grade wirkte in der Provinz wie in der Metropole. Technische Innovationen in der Fliegerei waren nicht au Metropolen gebunden, sondern eher an Orte technischer Entwicklungsfähigkeiten.
Markus Stippak M.A.: Vom Werden und Vergehen einer Zweckgemeinschaft: Darmstadts Abwässer und das Umland im 19. und 20. Jahrhundert
Wie viele andere, ähnlich große Städte, wuchs Darmstadt von 1816 (15.000 Einwohner) bis 1910 auf 90.000 Einwohner. Damit war ein entsprechender Flächenverbrauch verbunden. Eine geordnete Entsorgung der Fäkalien fand nicht statt. Der Abfluß erfolgte durch natürlkcihe Gefälle in den Vorflutern nach Westen hin. Eine zentrale Wasserversorgung wurde ab 1870 aufgebaut. Eine moderne Kanalisation diskutierte man ab 1875, gebaut wurde sie in den Folgejahren und war 1894 als Schwemmkanalisation fertiggestellt. Dies hatte eine deutliche Zunahme der Abwassermengen zur Folge, die in Rieselfeldern gereinigt wurden. Dabei kam es zur Ausbildung von “Wassergenossenschaften” durch die die Abwässer auf die Felder von Landwirten gebracht wurden. 1877 waren dabei 32 Hektar einbezogen, 1950 etwa 520 Hektar.
Bis etwa 1934 gab es Konsens zwischen Produzenten und Abnehmern der Abwässer auf den Rieselfeldern. Dann traten zunehmend Spannungen auf, die im Jahre 1948 durch das Auftreten eines Spulwurmproblems verstärkt wurden. Die durch die Abwässer “gedüngten” Landesfrüchte wurden gleichzeitig mit dem Spulwurm verseucht, der so in die Nahrungskette gelangte. Dies führte zum Ende der landwirtschaftlichen Nutzung der Abwässer und zur Diskussion eines Baus von Kläranlagen.
Erst 1958 wurde für Darmstadt eine Kläranlage errichtet. Nach dem Auftreten weiterer Probleme errichtete man 1964 eine biologische Klärstufe, die zum Ende dieser Wassergenossenschaften beitrug.
Im Hinblick auf die Wasserver- und –entsorgung war Darmstadt demnach ein Nachzügler.
Markus Beek M.A.: Abbruch und Ersetzung von Infrastruktur: Straßen statt Schienen. Streckenstillegung bei der Deutschen Bundesbahn in der Fläche in den 1960er Jahren am Beispiel der Bundesbahndirektionen Köln und Wuppertal
Ausgangspunkt für die Streckenstilllegungen war eine unklare politische Vorgabe an die Deutsche Bundesbahn. Vorgaben zu größerer Wirtschaftlichkeit kollidierten mit den Wünschen der Nutzer. Schließlich kam es zu einer Stilllegung von ca. 400 Kilometern Schienenweg. Die Politik hatte zahlreiche Gutachten zur Rentabilität in Auftrag gegeben, auf die die Direktionen mit konkreten Vorschlägen zu Stilllegungen antworteten. So gab es das “Brand-Gutachten” von 1960, dem zufolge die DB 30 % der Strecken stilllegen wollte.
Die DB entpuppte sich als Sanierungsfall, dem ein betriebeswirtschaftlich optimiertes Streckennetz fehlte. Als Reaktion der Stilllegungen folgten zahlreiche Protestaktionen von Publikum und Kommunen, die aber die Stilllegungen nur verzögern konnten.
Bis heute ist unklar, ob es zu weiteren Stilllegungen oder zu einem weiteren Ausbau in der Fläche kommt. Auch das hängt wieder von den politisch vorgegebenen Rahmenbedingungen ab.
Samstag: Exkursion
Verlauf:
Vom Luftwaffenmuseum / vom Haupttor der General-Steinhoff-Kaserne aus ging es im Luxusreisebus der Bundeswehr zu folgenden Zielen:
- Ziegeleipark in Mildenburg
- Mittagessen in Zehdenick
- Kalkwerk Rüdersdorf
Die Vorbereitung und Leitung der Exkursion übernahm Dr. Matthias Baxmann.
2) Diskussion zur Zukunft des Gesprächskreises
Ergebnis:
Der Gesprächskreis Technikgeschichte nutzt das Angebot von Regina Weber und trifft sich 2009 im RWE-Museum Recklinghausen, wo das Rahmenthema „Werbung für Strom – Werbung zum Verbrauch von Elektrizität“ behandelt werden soll.
Für 2010 ist angedacht, im österreichischen Linz das Thema Industriedenkmalpflege zu beleuchten. Aktuellen Anlass zu einem Treffen in Linz gäbe die Eröffnung der technikgeschichtlichen Abteilung im neuen Südtrakt des Oberösterreichischen Landesmuseums in Linz.
Schließlich gab es Konsens unter den Teilnehmenden dahin, den Termin des jährlichen Treffens vom Fronleichnamstermin auf das 1. Wochenende im Juni zu verlegen. Damit soll der eingetretenen Verkürzung der Treffen sowie dem Entschärfen einer terminlichen Konkurrenz mit der GTG Rechnung getragen werden.