012.png

Mobilität und Transfer

Driburger Kreis, 26.09.2007-28.09.2007, Wuppertal

Veranstalter: Susan Splinter; Malte Krüger; Axel C. Hüntelmann; Siegfried Bodenmann

Bericht von: Siegfried Bodenmann, Universität Bern; Axel C. Hüntelmann, Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main; Malte Krüger, Technische Universität Bergakademie Freiberg; Susan Splinter, Universität Regensburg

E-Mails: ; ; ;

Gegenwärtig ist Mobilität ein Grundelement der Multioptionsgesellschaft. Mit dem Internet hat sich eine neue Form der informellen Mobilität herausgebildet, die gänzlich neue Wege des Wissenstransfers und der Information eröffnet. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat die Wissenschaftsgeschichte das Thema der Mobilität früherer Gesellschaften wieder entdeckt. Sei es die Mobilität von Studenten im Spätmittelalter, von Forschern im 18. und 19. Jahrhundert, in der Epidemiologie oder auch in der Ding- bzw. Exponatgeschichte. Dabei hat die Forschung eine Reihe von Fragen aufgeworfen: Wer ist mobil? Aus welchen Gründen und zu welchem Zweck? Untersuchungen zur Mobilität fragen ferner nach ihren Voraussetzungen und Bedingungen. Eine Analyse der Mobilität setzt sich daher in erster Linie aus dem technisch-strukturellen Rahmen zusammen, in dem sie erfolgt, mithin der Wege und Mittel derer sie sich bedient. Der Bogen kann hierbei gespannt werden von den frühen Seewegen über die Flugversuche Leonardo da Vincis sowie die Ballonfahrt bis hin zu Eisenbahn, Automobil und Raumfahrt. Spannend ist dabei, dass der primäre Zweck von Transportmitteln, eine Person so schnell und sicher zum Ziel zu bringen, nicht selten durch andere Kriterien ersetzt wird. Das gewählte Transportmittel gibt somit nicht nur Zeugnis vom Streben nach Freiheit, sondern kann auch Ausdruck von Zeitgeist sowie kultureller Identität sein und bestimmt maßgeblich das Selbstbild des Reisenden.

Der Aufschwung der Naturwissenschaften ab dem 17. Jahrhundert ist eng mit der Bereitschaft zur Mobilität der Gelehrten verbunden, um sich auszubilden, eine Stelle an einer fremden Institution wahrzunehmen oder Beobachtung in wissenschaftlichen Expeditionen auszuführen. Wo Menschen verschiedener Nationen und Horizonte sich treffen, findet zwangsläufig auch ein Kultur- und Wissenstransfer statt. Dadurch entwickeln sich gemeinsame Ziele, Traditionen und Normen, sowie das Gefühl derselben Gemeinschaft anzugehören, der Gelehrtenrepublik oder scientific community. Netzwerke spannen sich scheinbar über geographische, politische und kulturelle Grenzen hinweg. Die Orte des Austausches vermehren sich und der in den gelehrten Korrespondenzen der Renaissance angefangene wissenschaftliche Diskurs wird in Akademien, Gelehrtengesellschaften, Zeitschriften, Forschungszentren, Laboren, auf Fachkongressen und virtuellen Foren weitergeführt.

Trotz des Ideals einer neutralen und unabhängigen wissenschaftlichen Gemeinschaft sind jedoch Mobilität und Wissenstransfer in den Naturwissenschaften nicht frei von externen Faktoren. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigt eindrucksvoll, wie politische Diktaturen, wirtschaftliche Krisen oder institutionelle Strukturen zur Mobilität und Migration zwingen und dabei den Wissensaustausch hindern oder fördern können. Soziale und kulturelle Faktoren bilden ihrerseits die Grundlage, auf die ein Bildungs- und Wissenstransfer erst aufbauen kann. Entsprechend des Begriffs der Inkommensurabilität von Thomas S. Kuhn muss auch der Fall berücksichtigt werden, in denen ein Wissenstransfer schlicht unmöglich ist. Ursächlich dafür können sowohl epistemische Grundverschiedenheiten als auch Generationskonflikte zwischen Forschern und Gelehrten oder ideologische Klüfte sein, die aus religiösen, ethischen, dogmatischen oder nationalistischen Motiven nicht überwunden werden. Solche Betrachtungen werfen einmal mehr die essentielle Frage nach den Bedingungen von Mobilität und Transfer auf. Ferner muss auch untersucht werden, inwieweit Forschungen und Fragestellungen von der Mobilität der Akteure beeinflusst werden und wie sich ein solcher Perspektivwechsel im Ergebnis auswirkt.

Dies waren die Fragestellungen des diesjährigen Treffens des Driburger Kreises im Wuppertal, der im Vorfeld der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft zur Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik (DGGMNT) statt gefunden hat. Die hohe Teilnehmerzahl von 31 NachwuchswissenschaftlerInnen bestätigte den Erfolg der Vorjahre und ermöglichte einen regen und konstruktiven Austausch. Die TeilnehmerInnen spiegelten in ihrer Vielfalt die Verbandsstruktur des DGGMNT und die unterschiedlich repräsentierten Institute der Medizin-, der Technikgeschichte sowie der Wissenschaftsgeschichte aus Deutschland und der Schweiz wider. Ebenso waren die Themen sowohl fachlich als auch zeitlich von der Frühen Neuzeit bis in die Zeitgeschichte weit gestreut, wie an den einzelnen Beiträgen ersichtlich ist.

Der erste allgemeine Block zu Mobilität und Transfer wurde von MALTE KRÜGER eingeführt, der neben den oben skizzierten Fragestellungen die Bedeutung des Begriffes als räumliche, soziale und virtuelle Mobilität aufgefächert hat und auf mögliche Anknüpfungspunkte von Mobilität/Immobilität, Raumkonzepte und dem Transfer von Wissen hingewiesen hat. Hier knüpfte der Beitrag von MICHAEL MARKERT über den Transfer von und in der Wissenschaftsgeschichte an. Als Ausgangspunkt seines Vortrages stand die Frage: Was geschieht, wenn die analytischen Kategorien Mobilität und Transfer auf die Historiographie der Naturwissenschaften selbst angewandt werden? Anhand der Darstellungen historischer Experimente in der Biologievermittlung – etwa in Schule oder Universität – veranschaulichte er die vorhandenen Wechselwirkungen zwischen ‚professioneller’ und ‚nicht-professioneller’ Wissenschaftsgeschichte. OLAF MEUTHER untersuchte seinerseits Orte als Wissenszentren und Knotenpunkte des Transfers und analysierte die Gründe, welche Wissenschaftler zur Migration führen können. Dabei unterschied er zwischen den realen, irrealen, medialen und virtuellen Orten.

In dem Themenblock zur Mobilität führte MARTIN WEDEKING den Gegenbegriff der Immobilität ein. Wedeking skizzierte die Entwicklungsgeschichte des Krankenfahr- und Rollstuhls anhand von Bildquellen und musealen Ausstellungsstücken. Er zeigte, dass unsere Definition von Mobilität durch die technischen Errungenschaften zur Überwindung alters- oder krankheitsbedingter Immobilität sich im Verlauf des letzten Jahrhunderts erheblich gewandelt habe. Seit dem Beginn der seriellen Herstellung von Krankenfahrstühlen am Ende des 19. Jahrhunderts bis heute wechselten sich immer wieder Phasen unterschiedlicher gesellschaftlicher Akzeptanz ab, bis sich schließlich am Ende des 20. Jahrhunderts eine allgemeine Anerkennung des Mobilitätsbedürfnisses von Rollstuhlfahrern durchzusetzen begann. Wedeking folgerte dementsprechend, dass Mobilität als Voraussetzung für Lebensqualität, soziale Teilhabe und Selbstbestimmung den Menschen des 20. Jh. immer wichtiger wurde. CHRISTIAN REIß stellte in seinem Vortrag die Mobilisierung und den Transfer zwischen Natur und Labor und fragte danach, welche Organismen in den Experimenten der Lebenswissenschaften Verwendung fanden und wie diese zwischen 1850 und 1930 zunehmend standardisiert und in die Experimentalsysteme eingebunden wurden. Er demonstrierte, dass dieser Prozess der Einbindung nicht immer den Regeln rationaler Forschungsplanung folgte, sondern dass auch außerwissenschaftliche Praxen in einem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess transformiert wurden. LAURA RODRIGUEZ stellte in ihrem Vortrag die lokalen mathematischen Kulturen in Ungarn, Göttingen und Paris zwischen 1900 und 1920 dar und untersuchte, wie der ungarische Mathematiker Friedrich Riesz aufgrund seiner wissenschaftlichen Aufenthalte in Göttingen und Paris, quasi als Synthese dieser beiden mathematischen Zentren, ein neues mathematisches Raumkonzept entwickelte. Sie verglich dabei seinen Artikel „Die Genesis des Raumbegriffs“, in welchem er einen abstrakten Raumbegriff formulierte, mit seiner Abhandlung „Sur les ensembles de fonctions“, die einen bestimmten Funktionsraum entwickelte. Dabei zeigte sie aufschlussreich, wie Riesz Anregungen sowohl bei Maurice Fréchet, Émile Borel, René Baire und Henri Lebesgue als auch bei David Hilbert fand. BIRGIT BAUMANN untersuchte die 1922 gegründete „Gesellschaft für angewandte Mathematik und Mechanik“, die im Etablierungsprozess der Angewandten Mathematik während der Zwischenkriegszeit in Deutschland eine große Rolle spielte und auch für die internationale wissenschaftliche Kooperation nach dem Ersten Weltkrieg, ein wichtiges Forum bildete. Dabei galt den drei Gründern: Hans Reissner, Ludwig Prandtl und Richard von Mises besonderes Augenmerk. Sie zeigte anhand vieler Funde aus den Briefwechseln der zwei Letzteren wie sehr ihre Intentionen und Motivationen sich differenzierten und wie man letztendlich zu einem Kompromiss zwischen einer praxisbezogenen oder einer theoretisch-wissenschaftlichen Ausrichtung dieser Organisation kam.

In der frühneuzeitlichen Sektion schilderte TILMANN WALTER am Beispiel von Thomas und Felix Platter, wie der überdurchschnittliche Erfolg des Mediziners Felix Platters aus einer gewinnbringenden Verbindung von privaten Motiven und öffentlich verfolgten Strategien entstand. Dazu zählten der von Vater und Mutter gleichermaßen ausgeübten Leistungsdruck, ein starkes Gefühl familiärer Verpflichtung, die Einheirat in die politische Elite Basels und die persönlichen Bekanntschaft schon des Vaters und des Schwiegervaters Franz Jeckelmann mit dem Anatomen Andreas Vesalius, der dem jungen Arzt zum persönlichen Vorbild werden sollte. Somit beleuchtete er, wie sich räumliche und soziale Mobilität auf die Ärzteschaft und den beruflichen Werdegang von Ärzten ausgewirkt hat. JOSEF BORDAT widmete sich in seinem Vortrag dem Gelehrten Leibniz, der als Hofrat und Bibliothekar in Hannover zu zahlreichen Dienstreisen verpflichtet war. Diese Pflicht wusste er gut auszunutzen, um seine Kontakte zu der Gelehrtenrepublik zu pflegen und zu erweitern. Bordat untersuchte die Reisen in den Jahren 1672-76 (nach Paris, London, Den Haag) und 1687-90 (vor allem nach Italien) und schilderte insbesondere die Begegnungen mit Ludwig XIV., den Leibniz zu einem Feldzug Frankreichs gegen Ägypten anzuregen versuchte. Weiter traf er Mitglieder der Royal Society, in die er später selbst aufgenommen wurde, Spinoza, mit dem es über unterschiedliche philosophische Vorstellungen zum Substanzbegriff zum Bruch kam und den Missionar Grimaldi, der Leibniz über die Philosophie der Chinesen unterrichtet, was hinsichtlich der Vernunft-Ethik der Frühaufklärung Wirkung entfaltete und ausgehend von Leibniz dessen Epigonen Christian Wolff beeinflusste.

In der letzten Sektion hat NILS KESSEL auf Grundlage der Tagebücher des Ordinarius für Pharmakologie, Wolfgang Heubner, die Funktion der Mobilität exemplarisch herausgearbeitet. Die vielen Reisen, die Heubner in Deutschland, den USA und mehr als zehn europäischen Ländern unternahm, dienten der ständigen Erneuerung von Freundschaftsbeziehungen und der Kontaktpflege. Das daraus entstandene Netzwerk wurde bald unverzichtbar für die Sicherung der eigenen Stelle in den politischen Wirren nach dem Zweiten Weltkrieg. Somit zeigte Kessel, dass die Zentralität der Einzelperson in der jeweils eigenen scientific community sich nicht allein mit wissenschaftlichen „Leistungen“, sondern eben nur mit Hilfe beständiger Kontaktpflege sichern ließ. Kessel belegte dabei den Facettenreichtum des Begriffes, in dem er zwischen einer räumlichen, einer sozialen, einer informationellen und einer politischen Mobilität unterschied. Der letzte Beitrag von VANESSA CIRKEL setzte sich mit der Erforschung der kosmischen Höhenstrahlen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert auseinander. Neben Experimenten und Messungen in Forschungsstationen im Hochgebirge setzten die Forscher relativ früh auf den Einsatz von bemannten und unbemannten Ballonen, um ihre Messinstrumente in möglichst große Höhe zu bringen. Cirkel zeigte, dass die Ballonfahrten nicht selten zu Mobilität zwangen – z. B. bei der oft umständlichen Bergung der Messgeräte – und darüber hinaus eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit von technischem und wissenschaftlichem Personal erforderte. Die durch diese Forschungskooperationen entstandenen Transfers hatten wiederum eine Auswirkung auf die Forschungsinhalte, wie Cirkel eindrucksvoll darlegen konnte. In der von SIEGFRIED BODENMANN geleiteten Abschlussdiskussion wurden die Grenzen des Konzeptes „Mobilität“ kritisch überprüft und die gewonnen Ergebnisse der Tagung sowie die Elemente einer Definition der untersuchten Begriffe zusammengefasst. Am Ende bleibt jedoch zu fragen, welche Perspektiven und Analysekategorien der Begriff über bestehende Kategorien hinaus eröffnen kann? Für das nächste Jahr 2008 wurde das Thema „Wissenschaft in der Populärkultur“ ausgewählt.

Konferenzübersicht

Sektion I
Malte Krüger (Freiberg): Mobilität und Transfer – Zu Bedingungen und Erklärungen von Dynamik in der Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik
Michael Markert (Jena): Wissenschaftsgeschichte transferieren!?
Olaf Meuther (Düsseldorf): Ort und Migration

Sektion II
Martin Wedeking (Münster): Die Entdeckung der Beweglichkeit. Mobilität bei Alter, Krankheit und Behinderung
Christian Reiß (Berlin): Der lange Weg ins Experimentalsystem – Mobilisierung und Transfer zwischen Natur und Labor
Laura Rodriguez (Leipzig): Zwischen den Kulturen: Zum Konzept des abstrakten Raumes bei Friedrich Riesz
Birgit Bergmann (Frankfurt am Main): „Im übrigen ist natürlich der Name nicht die Hauptsache!“ Oder etwa doch? – Die Gründung der Gesellschaft für Angewandte Mathematik und Mechanik. 1921-1923

Sektion III
Tilmann Walter (Würzburg): Epistolae medicae. Mobilität in der frühneuzeitlichen Ärzteschaft
Josef Bordat (Berlin): Mathematik und Physik, Politik und Geschichte. Die Reisen des G. W. Leibniz (1646-1716) zwischen diplomatischer Mission und wissenschaftlichen Austausch

Sektion IV
Nils Kessel (Freiburg): Mobilität als Funktionsmerkmal von Wissenschaft – Der Professor auf Reisen
Vanessa Cirkel (Wuppertal): Von fliegenden Experimenten und reisenden Forschern – Die Technik in der Erforschung der Höhenstrahlung und die Notwendigkeit von Forschungskollaborationen

Kontakt:
Susan Splinter
Staatliche Museen Kassel, Postfach 41 04 20, 34066 Kassel
susan.splinter @gmx.de

Die Seite des Driburger Kreises findet sich auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaften und Technik e. V.