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Entfesselte Kräfte

Technikkatastrophen und ihre Vermittlung.
Berichte. Fiktionen. Phantastische Szenarien

Zentrum für Moderneforschung (Universität zu Köln);
Inklings-Gesellschaft für Literatur und Ästhetik

06.07.2007-07.07.2007, Köln

Bericht von: Karl R. Kegler, Aachen
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Technische Katastrophen stellen nicht allein existenziell bedrohliche Ereignisse dar, sie sind wie andere Krisenereignisse Brennpunkte, in denen die Verwundbarkeit, die Werte und das Reaktionsvermögen einer Gesellschaft deutlich werden. Technik als Mittelsystem (Gehlen) ist jedoch nicht allein ein dinglich-reales, sondern auch ein mediales Phänomen. Wissen und Bewertung von technischen Katastrophen werden über Medien vermittelt. Dabei tritt in die zeitliche Lücke zwischen Katastrophennachricht und der endgültigen, mitunter sehr langwierigen Aufklärung von Unfallursachen, charakteristischerweise ein Orientierungswissen, das sich der Erfahrung früherer Vorfälle und aus allgemeinen Einschätzungen von Risiken und Entwicklungsnotwendigkeiten moderner technisierter Gesellschaften herleitet. Technikkatastrophen werden damit zu besonders aussagekräftigen Referenzfällen. Doch auch die in ihnen wirksam werdenden historischen Erfahrungen sowie Technik- und Fortschrittsbegriffe sind bereits maßgeblich durch Medien und Literatur vermittelt.

Während in der angelsächsischen Wissenschaft im Umkreis der "Science-Technology-Studies" (STS) – auch beeinflusst durch die Aufmerksamkeit, die der Sicherheit technischer Systeme nach den Anschlägen des 11. September 2001 zugemessen wurde – inzwischen eine Reihe von Übersichtsarbeiten zu technischen Katastrophen entstanden ist [1], stehen in der deutschen Forschung nach wie vor anthroplogisch-soziologische Diskurse in der Nachfolge Arnold Gehlens, Ernst Cassirers oder Helmuth Plessners hoch im Kurs. Ein Beispiel für diese Forschungsrichtung ist Martin Voss jüngst erschienene "Soziologie der Katastrophe"[2], die in der Untersuchung ihres Gegenstandes weder auf historische Präzedenzfälle noch auf die mediale Vermittlung von Katastrophen eingeht. Vor diesem Hintergrund hat die Kölner Tagung zu "Technikkatastrophen und ihrer Vermittlung" in der deutschen Forschungslandschaft echtes Neuland beschritten.

Fokus der zweitägigen internationalen Konferenz waren nicht die ereignisbezogene Rekonstruktion bestimmter historischer Katastrophenereignisse, sondern die medialen und medienhistorischen Aspekte in der Vermittlung von Katastrophen. Zu diesem Fragenkomplex zählen nicht allein die Verarbeitung realer Ereignisse, sondern auch fiktionale Katastrophen in der Literatur, an denen sich in besonderer Weise zeitspezifische Werthaltungen, Ängste oder Entwicklungshoffnungen in Bezug auf Technik ablesen lassen. Der Vielschichtigkeit der Thematik entsprechend bemühte sich die Tagung von vorneherein um einen interdisziplinären Ansatz, der Literatur- und Medienwissenschaftler, Technikhistoriker und -soziologen sowie Journalisten aus ganz Deutschland, den Niederlanden, Großbritannien und England zusammenbrachte.

Die Mehrdimensionalität des Themas machte denn auch Rudolf Drux, Mitveranstalter der Tagung und stellvertretender Leiter des Kölner Zentrums für Moderneforschung deutlich, als er in seinem Einleitungsvortrag darauf verwies, dass der Begriff der Katastrophe aus der antiken Dramentheorie stammt: schon die Übertragung des Begriffs auf technische Unfälle oder Naturereignisse nimmt damit Bezug auf Figuren erzählerischer Inszenierung. Die Bedeutung von Katastrophen im kollektiven Gedächtnis richtet sich folgerichtig nicht allein nach objektiven Kriterien wie der Zahl von Opfern oder dem Ausmaß an Schäden, sondern nach ihrer medialen Präsenz und Ausdeutung. Obgleich das zwanzigste Jahrhundert ungleich schwerwiegendere Katastrophen zu beklagen hat, hat aufgrund seiner mehrmaligen medialen Inszenierung und Re-Inszenierung der Untergang des Passagierschiffes Titanic im Jahr 1912 geradezu den Status einer Deutungsfigur für technisches Scheitern erlangt. Diese Deutungsfigur ist stets auch mit der Frage nach der Reichweite menschlichen Wissens verbunden: In der Katastrophe wird Nicht-Wissen über Ursachenzusammenhänge in einer Situation von existenzieller Tragweite absolut signifikant.

Einen vertieften Einblick in den Umgang mit technischen Risiken aus der Perspektive der Science-Technology-Studies eröffnete der unmittelbar anschließende Vortrag von Wiebe E. Bijker. Bijker leitet an der Universität Maastricht derzeit ein Forschungsvorhaben, das sich mit der Verwundbarkeit technischer Kultur auseinander setzt und plädierte im Rahmen seiner Ausführungen nachdrücklich für eine Demokratisierung der Kommunikation über technische Risiken, die nicht allein Experten überlassen werden dürfe. Dies gelte gerade für die Bereiche, in denen noch keine ausreichenden Erfahrungen über mögliche Folgen zu greifen seien. Während heutzutage etwa die Einschätzung der Gesundheitsrisiken durch Asbest so gut erforscht sei, dass man sie getrost Experten überlassen könne, sei dies bei neuen Wissensfeldern wie den Auswirkungen der Nano-Technologie oder dem Klimawandel nicht der Fall. Um aber auf den Klimawandel überhaupt einwirken und Verhalten anpassen zu können, sei zuerst ein Wissen darüber erforderlich, wie die Allgemeinheit auf dieses Phänomen reagiere.

Mechanismen der Reaktion und Deutung wandte sich auch Andrea Niehaus, Leiterin des Deutschen Museums in Bonn, in ihrer Analyse des Unfalls auf der Transrapid Teststrecke im September 2006 zu. Der Unfall ist dadurch gekennzeichnet, dass Systeme, die eine Kollision auf der Teststrecke verhindern sollten, zwar vorhanden, aber zum Teil deaktiviert waren. Noch bevor eine umfassende Analyse der systemischen Wechselwirkungen zwischen Sicherheitsroutinen und dem Verhalten der Bedienungsmannschaft abgeschlossen war, griffen jedoch Interpretationsversuche von außen ein; so verkündete etwa der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, bei dem Unfall handele es sich um "menschliches Versagen", ohne zu thematisieren, dass schließlich auch technisches Versagen eine Spielart von menschlichem Versagen darstellt. Hintergrund für derartige Interpretationsmanöver waren Bemühungen, die betroffene Transporttechnologie, deren besondere Sicherheit zuvor stets hervorgehoben war, vor einem Negativimage zu schützen, um die Exportchancen der Magnetschwebebahn nicht zu gefährden. Während der Ermittlung der Unfallursachen veränderten sich schließlich auch Expertenurteile darüber, welche Unfallmöglichkeiten im Betrieb der Schwebebahn "möglich" und welche ausgeschlossen seien. So hatte man im Vorfeld betont, eine Kollision auf der Strecke sei wegen der eingebauten Warnsysteme, mit denen die Magnetzüge untereinander kommunizieren, schlichtweg unmöglich, eine Kollision zwischen der Magnetschwebebahn und einem konventionellen Werkstattwagen, der nicht mit den hochentwickelten Warnsystemen des Zuges ausgerüstet war, war schlichtweg nicht in Betracht gezogen worden. Nichtsdestotrotz betonte Niehaus auch die positiven Potenziale, die aus einer Katastrophe erwachsen und zur Einführung verbesserter Sicherheitssysteme beitragen können.

Carsten Könneker (Heidelberg), Chefredakteur der Zeitschrift "Gehirn und Geist" widmete sich im Anschluss dem Stellenwert journalistischer Meldungen in der vorauseilenden Deutung von Katastrophen. Am Beispiel der kontinuierlich aktualisierten Nachrichten über den Hurrikan Katrina und die Überflutung von New Orleans im September 2005 führte er vor, wie dem Ereignis je nach Fokus der Nachricht wechselnde Deutungen als Natur-, Technik- oder organisatorische Katastrophe zugeschrieben wurden. Die jeweiligen Meldungen stellen dabei eine Art selbstreferentielle Kette dar, in der beim Rezipienten die Kenntnis der vorherigen Nachrichten vorausgesetzt wird, um den Stellenwert der jeweils jüngsten Meldung überhaupt begreifen zu können.

Der literarischen und filmischen Aufarbeitung eines katastrophalen Ereignisses wandte sich Harro Segeberg (Hamburg) in einer weit angelegten Analyse der Rezeption des Titanicuntergangs zu. Die literarische und filmische Rezeption dieser paradigmatischen Katastrophe fand im Vortragenden einen kongenialen und kompetenten Interpreten, denn Segeberg hat nicht allein ein zweibändiges Standardwerk vorgelegt, das die Geschichte der deutschen Literatur aus der Perspektive der technischen Moderne deutet [3], sondern gibt seit 1996 auch eine mittlerweile fünfbändige Reihe zur Mediengeschichte des Films heraus. Die besondere und unmittelbar einsetzende Wirkung des am Eisberg zerstörten Luxusdampfers leitete Segeberg unter anderem aus der zeichenhaften Situation der Reise auf hoher See her, die seit der Antike paradigmatisch ausgestaltet worden ist. Für solcherart Sinnstiftung und Aufbereitung bietet der Untergang der Titanic zudem besonders attraktive Ingredienzien. Eine literarische Antizipation fand das Unglück so schon in Gerhard Hauptmanns Roman "Atlantis", in welchem der Untergang eines großen Passagierdampfers im Atlantik geschildert wurde. Der Roman erschien nur wenige Wochen vor dem Untergang der Titanic im "Berliner Tageblatt" als Fortsetzungsroman und wurde kurz nach dem Unglück auch verfilmt. Die Wahrnehmung der tatsächlichen Katastrophe wurde insofern durch ein fiktionales Werk teils präfiguriert, teils überlagert. Auch im Folgenden wird der Untergang der Titanic mehrfach und unter wechselnden Deutungsabsichten verfilmt oder literarisch bearbeitet. Mit der Nachverfolgung dieser Inszenierungen von Hauptmann bis zu James Camerons Hollywood-Blockbuster aus dem Jahr 1997 illustrierte Segeberg die These, dass mit der Wahrnehmung von Ereignissen als Katastrophen von vorneherein massenmedial generierte Vorstellungskomplexe verbunden sind, die einerseits aus Bildern erwachsen, die dem Ereignis voraus liegen, andererseits in Verknüpfung mit ihm zugespitzt und verändert werden können.

Tina Bartz führte am folgenden Tag in ihrem Vortrag vor, dass Katastrophen nicht allein als solche empfunden werden, wenn es um moderne Spitzentechnologie geht. Der Untergang des Segelschiffes Pamir im Jahr 1957 markiert in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit den endgültigen Abschied von einem traditionellen und ideologisch überhöhten Bild von Seefahrt unter Segeln. Der Untergang des Segelschulschiffes Pamir stellte dieses Leitbild in Frage. Für die Handelsmarine verlor die zuvor als notwendig betrachtete Kadettenausbildung auf einem Segelschiff ihre Verbindlichkeit auch in der Bundesmarine entspann sich eine kritische Diskussion im Vorfeld der 1958 erfolgten Anschaffung des Segelschulschiffes Gorch Fock. Der Untergang der Pamir stellt jedoch auch ein Medienereignis besonderer Art dar: das Fernsehprogramm der damals noch jungen ARD reagierte auf die Nachricht vom Untergang des Schiffes am 22. September 1957 mit dem Abbruch des vorgesehenen Abendprogramms um 20:40 Uhr, eine Entscheidung, die im Nachhinein vom "Spiegel" dahingehend kritisiert wurde, dass mit dieser Reaktion der Eindruck einer quasi nationalen Katastrophe suggeriert worden sei. Bartz erklärte diesen in der deutschen Mediengeschichte einmaligen Vorgang des Programmabbruchs aus der Situation der Fernsehberichterstattung in den 50er Jahren. Zu diesem Zeitpunkt waren die Mittel für eine moderne Live-Berichterstattung schlicht noch nicht vorhanden. In dieser Situation war der Abbruch der Sendungen eine Option, um zeitgleich mit der Nachricht zu reagieren. Der Programmabbruch stellt also kein mediales Unvermögen gegenüber der Untergangsnachricht dar, sondern eine bewusste Inszenierung. Knapp 50 Jahre später wird im Jahr 2006 der Untergang der Pamir in einer Produktion der ARD schließlich aufwendig verfilmt.

Während der Untergang der Titanic und auch der 45 Jahre spätere Verlust der Pamir Katastrophen darstellen, die durch die Abwesenheit von Bildern und unmittelbaren Reportagen gekennzeichnet sind, ist die Brandkatastrophe des Zeppelins Hindenburg eines der ersten Unfallereignisse historischer Bedeutung, das durch die Dokumentation von Wochenschau und Radio sofort zu einem multimedialen Nachrichtenereignis avancierte. Dazu beigetragen hat die berühmte und erschütternde Reportage des amerikanischen Reporters Herb Morrison der am 6. Mai 1937 die Landung der Hindenburg in Lakehurst für den Sender des Prairie Farmers' Network (WBC, Chicago) kommentierte und für die spätere Sendung (auf Schallplatte) aufzeichnete. Aus der sachlich routinierten Beschreibung des Landemanövers wechselt Morrisons Stimme unvermittelt in den Ton des Entsetzens und höchster Anteilnahme als sich das Luftschiff binnen kürzester Zeit in einen Feuerball verwandelt. Am folgenden Tag wurde die Aufnahme in den USA landesweit ausgestrahlt. Unabhängig von Morrisons Radioreportage waren auch mehrere Kameramänner der amerikanischen Wochenschau am Unfallort, die allerdings erst zu drehen begannen, als das Zeppelin bereits in hellen Flammen stand. Erst im Nachhinein wurde aus den voneinander unabhängigen Bild- und Tonaufnahmen eine Gesamtheit montiert, so dass der Eindruck einer modernen Live-Berichterstattung entstehen kann. Günter Grimm (Duisburg-Essen) illustrierte in seinem Beitrag, mit welchen Strategien das als katastrophal empfundene Ereignis im Nachhinein fiktional "besetzt" wurde, indem filmische und literarische Adaptionen Spekulationen zu den bis heute nicht restlos geklärten Ursachen des Unfalls entfalteten, die in unterschiedlicher Weise mit einem vermeintlichen Anschlag auf das Luftschiff während der Landung in Lakehurst in Verbindung gebracht werden. Ein jüngstes Beispiel derartiger Erklärungsversuche, die unter anderem 1974 in Robert Wises oskargekrönter Verfilmung auch den Weg in die Kinos fand, ist Henning Boëtius Roman "Phönix aus Asche" (2000). Boëtius legt nahe, Göring habe den Befehl gegeben, die Hindenburg durch eine Bombe möglichst spektakulär zu zerstören, da das Transatlantikluftschiff als Friedensbotschafter nicht in die politische Konzeption NS-Deutschlands gepasst habe. Durch ihren abenteuerlichen Charakter gewinnen derartige Spekulationen gegenüber Erklärungen, die nüchtern auf eine Kette von technischen Ursachen verweisen, eine besondere Attraktivität, wobei auch viel nachträgliche Faszination für die Ästhetik der Luftschifffahrt mitschwingt. Die Konzentration auf den Absturz der Hindenburg ignoriert jedoch eine lange Kette vorhergehender katastrophaler Unfälle britischer, italienischer, französischer und US-amerikanischer Luftschiffe von den 1920ern bis in die frühen 1930er Jahre und damit den Status der Zeppelinluftschifffahrt als äußerst unfallanfälliger Technologie. Lakehurst markiert andererseits den seltenen Fall, dass eine Katastrophe und das mit ihr verbundene mediale Echo zur Aufgabe einer ganzen technischen Entwicklungslinie führt.

Einen zweiten inhaltlichen Schwerpunkt der Tagung stellten fiktionale Katastrophenbilder in der Literatur dar. Nicholas Daly (Dublin) beschäftigte sich mit bedrohlichen Technikbildern in Sensationsstücken des Theaters des 19. Jahrhunderts. Patrick Parrinder (Reading) betrachtete Weltuntergangsszenarien im Science-Fiction. Thomas Amos (Heidelberg) führte anhand Jules Vernes Erzählung "Eine Phantasie des Dr. Ox" (1872) die groteske Zuspitzung in einer technischen Katastrophe vor, über die der Fortschritt selbst satirisch hinterfragt wird. Auch einzelne Technikbereiche wurden untersucht: Rolf Füllmann (Köln) betrachtete Eisenbahnkatastrophen, Hans Esselborn (Köln) untersuchte die Atomenergie in fiktionalen Texten. Während in der Realität katastrophale Unfälle vermeintliches Orientierungswissen hinterfragen, produzieren fiktionale Katastrophen ein solches Wissen indem sie katastrophale Verkettungen als denkbare Möglichkeit darstellen und dabei Aussagen zu Sicherheit und Unsicherheit von technischen Systemen machen und in der Fiktion mögliche Handlungsoptionen darstellen. Dieser Aspekt wurde auf originelle Weise in Nicholas Dalys (Dublin) Präsentation deutlich, der sich mit populären Sensationsstücken auf den Theaterbühnen des 19. Jahrhunderts beschäftigte. In diesen Stücken spielt Technik mitunter eine besonders bedrohliche Rolle, so wenn etwa in Dion Boucicaults Erfolgsstück "After Dark. A Tale of London Life" (1868) auf der Bühne die Attrappe einer Lokomotive auf das gefesselte Opfer zurollt und dieses erst im letzten Moment gerettet werden kann. Während derartige Stücke einerseits die Gefahren moderner Technik für ihre Inszenierung nutzen, stellen sie andererseits über das sekundengenaue Timing der Theatertechnik, das für die Aufrechterhaltung der Bühnenillusion notwendig ist, mediale Adaptionen der modernen Maschinentechnik dar. Sie sind im Gewand von Freizeitvergnügen – so Dalys Deutung – eine Art von Training für den Umgang mit den Gefahren einer Welt, in denen mit dem neuen Transportmittel der Eisenbahn auch neue Verhaltensweisen eingeübt werden mussten.

Mit der Rolle der Eisenbahn befasste sich denn auch Rolf Füllmann (Köln) bei seiner Analyse deutscher Eisenbahnnovellen des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, in denen ein Unfall den Fokus des Geschehens abgibt. Während Wilhelms Schäfers Novelle "Im letzten D-Zug-Wagen" von 1907 noch technikbezogene Ängste über eine zufällige Schicksalsgemeinschaft inszeniert, die im "letzten D-Zug-Wagen" bei einem Auffahrunfall ums Leben kommt, mischen sich in zeitgleiche Erzählungen, so etwa in Thomas Manns "Das Eisenbahnunglück", auch ironische Elemente, die übertriebene Katastrophenängste hinterfragen. Mit der zunehmenden Vertrautheit mit dem Transportmittel Eisenbahn – so führte Füllmann in der Diskussion aus – verschwindet schließlich das Interesse von Autoren, die Eisenbahn zum Vehikel fiktionaler Katastrophen zu gestalten.

Dass der Katastrophe gar in der Fiktion auch eine positive Rolle als grotesker Schlusspunkt einer übersteigerten modernen Beschleunigung zukommen kann, illustrierte Thomas Amos (Heidelberg) mit seiner Analyse von Jules Vernes Groteske "Dr. Ox" von 1872. In Vernes Erzählung wird durch die Einführung der Gasbeleuchtung in einer verschlafenen flämischen Kleinstadt ein übersteigerter Aktivitäts- und Fortschrittstaumel ausgelöst, der in der rationalen Aufklärung am Ende der Erzählung durch die aufputschende Wirkung von reinem Sauerstoff erklärt wird, den der undurchsichtige Projektemacher Dr. Ox über die Gasleitungen heimlich in die Häuser der Stadt leitet. Der Spuk findet kurz vor einem drohenden patriotischen Kriegszug der Stadtbevölkerung sein Ende, als das Gaswerk des Dr. Ox unvermutet explodiert. Amos deutete Vernes Erzählung als Satire auf die Modernisierungskrisen des Zweiten Kaiserreichs.

Die ambivalente Moral von Katastrophenfiktionen führte auch Patrick Parrinder (Reading) vor, indem er u.a. auf den Modellcharakter von Goethes "Zauberlehrling" verwies. Wie beim Schüler des Hexenmeisters in Goethes Ballade schwingt in Katastrophenfiktionen nicht selten die Vorstellung einer gerechten Strafe mit, die den vorwitzigen Techniker oder Wissenschaftler im desaströsen Scheitern seines Projektes ereilt. Dabei werden freilich jeweils aktuelle Ängste aufgegriffen, die in der Fiktion bis zu einem potenziellen Weltuntergang durch technische Mittel reichen. Parrinder analysierte in dieser Hinsicht die Vorstellung einer durch Gentechnologie verursachten Katastrophe in Mitchisons "Solution Three"(1976) – hier kann der Untergang der Menschheit in letzter Minute noch abgewendet werden – und Vonneguts pessimistisches Szenario "Cat's Cradle" (1963), in welchem die Apokalypse unter absurden Umständen durch nanotechnologisch veränderte Eiskristalle herbeigeführt wird. Beide Romane eilen um Jahrzehnte der Anwendungsreife der betreffenden Technologien voraus.

Durch die Störfallnachrichten aus den Atommeilern Krümmel und Brunsbüttel bekam der Abschlussvortrag der Tagung, in welchem sich Hans Esselborn (Köln) der Atomenergie im Science-Fiction zuwandte, eine unbeabsichtigt aktuelle Dimension. Esselborn zeigte überzeugend das interessante Phänomen auf, dass trotz aller Atom- und Fortschrittseuphorie der 1950er und 1960er Jahre, die Darstellung der Kernenergie in beiden deutschen Staaten überwiegend von ambivalenten Erwartungen beherrscht ist. Der Vortrag führte diesen skeptischen Grundton darauf zurück, dass die militärische Nutzung der Kernenergie, die deutlich vor ihrer zivilen Nutzung liegt, ein Bild vermitteln musste, bei der mit der neuen Technologie auch immer die Möglichkeiten ihres militärischen Missbrauchs mitzudenken war. Genau dies ist bereits 1925 Thema der Zukunftsspekulationen Hans Dominiks ("Der Brand der Cheopspyramide"). Aber auch bei den grundsätzlich fortschrittsfreundlichen DDR-Autoren wie Hans W. Fricke (alias: Hans Fahlberg) in seinem Roman "Betatom" (1957) und Eberhardt Del'Antonio ("Gigantum", 1957) ist eine solche Ambivalenz spürbar. Bei diesen Autoren verschwimmen in gewisser Weise auch die Grenzen zwischen Katastrophengefahren, die aus der zivilen Nutzung der Atomenergie erwachsen, und solchen eines militärischen Einsatzes, denn auch im System einer weitgehend automatisierten Abschreckung wächst dem unglücklichen Zufall in technischen Systemen als Auslöser für eine atomare Katastrophe besondere Bedeutung zu. In diesem Sinne imaginiert die literarische Fiktion von Anfang an Szenarios die später durch den von Charles Perrow geprägten Begriff der "normalen Katastrophe" zu einem Topos der Techniksoziologie und Technikfolgenabschätzung geworden sind.

Andererseits ist nicht zu verkennen, dass auch das Medium der fiktionalen Erzählung selbst einen gewissen Einfluss auf die Dramatisierung der Darstellung ausübt und ausgewählte Aspekte heraushebt. Spektakuläre und sich rasch zuspitzende Unglücksfälle verfügen in ihrer dramaturgischen Darstellung über den Vorteil szenischer Eindringlichkeit, während langsame Veränderungen sich einer literarischen Fokussierung eher zu entziehen scheinen. Gerade in dieser Dimension sind die besprochenen Katastrophenfiktionen Indikator für zeitspezifische Technikängste und die damit verknüpfte "Verwundbarkeit" einer Gesellschaft. Denn wenn reale oder fiktive Technikkatastrophen in der Literatur gestaltet werden, wirkt ihre Darstellung auch auf das Katastrophen- und Risikobewusstsein des Lesers. Diese Erwartungen können aber auch durchaus einseitig sein. Wie gebannt sind Aufmerksamkeit und Imagination von spektakulären Großereignissen gefesselt.

Der konsequent interdisziplinäre Ansatz der Tagung eröffnete interessante Quervergleiche und führte unter anderem vor Augen, wie intensiv sich Medien- und Literaturwissenschaft mittlerweile auch mit Fragen der Technikgeschichte und Technikwahrnehmung befassen. Die Tagung, die Aufnahme im Programm des "Jahres der Geisteswissenschaften 2007" gefunden hat, führte weiter erfolgreich vor Augen, welchen Anteil die Geisteswissenschaften für ein besseres Begreifen der technisierten Gesellschaft beitragen können. Eine Publikation der Tagungsbeiträge wird bis März 2008 im Inklings-Jahrbuch für Literatur und Ästhetik erfolgen.

Anmerkungen:
[1] Um einige neuere Arbeiten zu nennen: Chiles, James R., Inviting Disaster. Lessons from the Edge of Technology, New York 2002;. Evan, William M.; Manion, Mark, Minding the Machines. Preventing Technological Disasters, Upper Saddle River 2002; Clarke, Lee, Worst Cases. Terror and Catastrophe in the Popular Imagination, Chicago, London 2006.
[2] Voss, Martin, Symbolische Formen. Grundlagen und Elemente einer Soziologie der Katastrophe, Bielefeld 2006.
[3] Segeberg, Harro, Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1997; ders., Literatur im Medienzeitalter. Literatur, Technik und Medien seit 1914, Darmstadt 2003.
[4] Segeberg, Harro (Hrsg.), Mediengeschichte des Films. Bde. 1-5, München 1996-2006.

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Kontakt:
Dr. Rolf Füllmann
Institut für Deutsche Sprache und Literatur I.
Universität zu Köln. 50923 Köln
0221 - 470 2670

Zentrum für Moderneforschung. Universität zu Köln http://www.zfmod.de