Technik und Wissen
Gesellschaft für Technikgeschichte; Universität Freiberg
11.05.2007-13.05.2007, Freiberg
Bericht von: Regina Weber, Berlin
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Rund 60 Tagungsteilnehmer aus Universitäten, Forschungsinstitutionen und Museen nahmen an der Jahrestagung der Gesellschaft für Technikgeschichte 2007 teil. In fünf Sektionen beschäftigten sich Fachwissenschaftler interdisziplinär mit Themen zur Forschung und Praxis in der Früh- und Hochindustrialisierung, zum Computerzeitalter, zu Grenzen der Verwissenschaftlichung, der industriellen Anwendung von Wissen und dessen disziplinären Formalisierung sowie zu der Beschreibung technischen Wissens.
In der ersten Sektion über Technisches Wissen in der Hoch- und Frühindustrialisierung stellte zunächst Mariann Juha (Ludwig-Maximilian-Universität München) in ihrem Vortrag „Theorie und Praxis? Mineralogie an der Bergakademie Schemnitz im 18. Jahrhundert“ die Ausgangsfrage, ob Mineralogie an der ungarischen Bergakademie Schemnitz schon damals als selbstständige Wissenschaft existierte und ob eine wissenschaftliche Verknüpfung mit dem Bergbau stattgefunden hat. Anhand der Ausbildung von Fachkräften im Bergbau legte sie dar, wie sich die Mineralogie in Schemnitz aus der Praxis des Bergbaus heraus über die Lehrtätigkeit bekannter Professoren wie Nicolaus Joseph Freiherr von Jacquin, Johann Anton Scopoli oder Christoph Traugott Delius etablierte, aber auch professionalisierte, mit dem Ergebnis, dass Fortschritte in der Montanistik und den Naturwissenschaften durch die Vereinigung theoretischen Wissens mit der Praxis erzielt wurden.
Heinrich Lang (Otto-Friedrich-Universität Bamberg) fokussierte seinen Vortrag auf technologisches Wissen und Wissenstransfer Mitte des 18. Jahrhunderts, was er am Beispiel der „Scuola“ für metallurgische Wissenschaften des Benedetto Nicolis Di Robilant darstellte. Er schilderte die Errichtung der königlichen Schule in Turin unter Vittorio Amedeo III. in den 1780er-Jahren, die maßgeblich durch einen wissenschaftlichen Bericht, der „Scuola“ des Benedetto Nicolis Di Robilant, beeinflusst wurde. Der Artillerieexperte reiste bereits 30 Jahre zuvor durch Sachsen und Böhmen, um sich Techniken des Kupferbergbaus und ihre praktische Anwendung im militärischen Bereich anzueignen. Am Beispiel des Benedetto Nicolis Di Robilant zeigte Heinrich Lang, dass hier Wissenstransfer unter anderem politisch motiviert war. Denn die Regierung, ab 1730 unter Carlo Emanuele III. von Piemont-Savoyen, strebte wirtschaftliche Reformen an und beauftragte deshalb Benedetto Nicolis Di Robilant mit dieser Reise.
Für das 19. Jahrhundert legte Mirko Buschmann (Technische Universität Dresden), den Schwerpunkt auf die Konstruktionskultur im deutschen Maschinenbau und dessen Reflexion als ein wissenschaftsgeleiteter Prozess. Die Unternehmen dieser Zeit behandelten die Fertigung gegenüber der Konstruktion zweitrangig, da letztere einer mathematisch-theoretischen Deutung unterlag. In der technikwissenschaftlichen Forschung des 19. Jahrhunderts wurde die Grundlagenforschung gegenüber der anwendungsorientierten Forschung vorrangig behandelt, was eine spezifisch deutsche Erscheinung war.
Die zweite Sektion thematisierte die Grenzen der Verwissenschaftlichung, die zunächst Constantin Canavas (Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg) am Beispiel der „Public Access Defibrillation“, ein System zur Behandlung akuter Herzrythmusstörungen, aufzeigte. Seit den 1980er-Jahren werden automatische externe Defibrillatoren für Flughäfen, Einkaufszentren, Sporthallen etc. entwickelt, die dem Anwender bei Bedarf eine automatische Bedienungsanleitung per Sprachtonbefehl zur Verfügung stellen. Somit wird Expertenwissen auf medizinische Laien übertragen, die lediglich für solche Notfälle geschult worden sind. Medizinisch-technisches Wissen wird so in der „inneren Funktionalität der Geräte eingekapselt“. Constantin Canavas kritisierte, dass die Vorstellung einer „kinderleichten“ Ausführung dominiere und für die Nutzung keinerlei Vorwissen vorausgesetzt würde. Nach aufgetretenen Problemen bei der Handhabung fordern jedoch Rettungssanitäter, Ärzte oder Auftraggeber „Standards“ für den Einsatz der Geräte zu setzen, die medizinisches Wissen, eine öffentliche Kennzeichnung des Personals oder Soft Skills wie eine „erfahrungsbasierte Entschlossenheit“ beinhalten.
Manuel Schramm (Technische Universität Chemnitz) zeigte weniger die Grenzen als vielmehr die Möglichkeiten, die sich in der Kartographie und Geodäsie durch Technisierung und Verwissenschaftlichung in der Bundesrepublik Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg eröffneten. In der Geodäsie und Kartographie führten erst neue Technologien, wie die Elektronische Datenverarbeitung oder Satellitentechnik, zu einer Transformation dieser Diszipline. Während in den 1960er-Jahren in der Kartographie Technisierungsprozesse in einer handwerklich-künstlerisch geprägten Disziplin zu Spannungen im Verwissenschaftlichungsprozess führten, war die Geodäsie schon im 19. Jahrhundert mit der Einführung neuer mathematischer Methoden konfrontiert worden. In der Geodäsie des 20. Jahrhunderts wurden dann Messungen am Boden durch photometrische Methoden abgelöst und Bilder auf Nachfrage von Vermessungsämtern und Militär produziert.
Frank Uekötter (Deutsches Museum, München) sieht hingegen die Grenzen dort, wo Verwissenschaftlichung als Verdrängungsprozess funktioniert. Mit der Darstellung der Technisierung und Chemiesierung der Landwirtschaft im 20. Jahrhundert zeichnet er ein differenzierteres Bild zu einer angeblich erfolgreichen wissenschaftsbasierten Agrarproduktion und diskutiert die Ursachen der Verdrängung ökologischer Aspekte. Eine wissenschaftsbasierte Agrarproduktion hätte nur kurzfristigen Produktivitätsgewinn im Blick. So konzentrierten sich Züchtungsforschung und Pflanzenernährung vor allem auf die vier Kernnährstoffe Kalk, Kali, Stickstoff und Phosphorsäure und sähen den Boden selbst vor allem nur als Zwischenspeicher von Pflanzennährstoffen. Frank Uekötter kommt zu dem Schluss, dass die Intensivlandwirtschaft nicht einfach aus politischen und ökonomischen Zwängen entstand, sondern das Ergebnis einer „spezifischen wissensmäßigen Programmierung“ war.
In der dritten Sektion zum Thema „Technisches Wissen zwischen industrieller Anwendung und disziplinärer Formalisierung“ analysierte Mathias Mutz (Georg-August-Universität Göttingen) ökonomische Aspekte des Wissens im 19. Jahrhundert, das heißt Wissen als Produktionsfaktor und Organisationsformen von Wissen in wirtschaftlichen Prozessen. Am Beispiel von „Unternehmen mit hölzernem Gepräge“, der stark arbeitsteiligen Papierfabrikation auf der Grundlage von Holzschliff, wurden die Unterschiede im Erwerb und in der Organisation von Wissen erörtet. Unternehmen, wie beispielsweise die Firma Kübber & Niethammer entwickelten sich aus einer Phase der Experimentierfreudigkeit heraus, über eine Standardisierung von Verfahren, die Fixierung von Wissen in Fachzeitschriften und –büchern bis hin zur Etablierung der Ausbildung an Gewerbe- und Hochschulen. Explizit erworbenes Wissen und die Produktion implizitem neuem Wissen gingen mit einer Verschränkung der Papiertechnik und Forstwirtschaft einher.
Auch Günther Luxbacher (Technische Universität Berlin) sieht eine Verzahnung, jedoch von disziplinär geprägtem Wissen. Zwischen 1900 und 1945 steht die Metallforschung im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlicher Disziplin, technischer Anwendung und dem Topos von Technik als angewandte Naturwissenschaft. Anhand der Materialforschung/Werkstoffwissenschaft der Metalle zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus` erläuterte Günther Luxbacher, dass die Naturwissenschaften von Technikwissenschaftlern mehr als materielle Ressourcen zur Forschungsförderung und weniger als Informationsquellen wahrgenommen wurden. Hingegen waren die Technikwissenschaften stärker mit der Industrie und Politik verbunden und zwar nicht nur im Nationalsozialismus, sondern schon in der Weimarer Republik, deren politisches Interesse auf dem Welthandel lag.
Vitaly Gorkhov (Akademie der Wissenschaften Moskau/ Forschungszentrum Karlsruhe) referierte über „Die Eigenart der technischen Theorie in den technikwissenschaftlichen Disziplinen“, die darin besteht, dass die Entstehung technischer Theorien davon abhängt, welche Perspektive eingenommen wird. So kann eine technische Theorie aus der Naturwissenschaft oder aus der Ingenieurspraxis heraus entwickelt werden. Am Beispiel des russischen Wissenschaftlers S. Khristianovich, der über die Bewegung des Grundwassers durch Sand und Splitt forschte, erbrachte Vitaly Gorkhov den Beleg über die wichtige Rolle der praktischen Ingenieurstätigkeit zur Ergänzung oder als Ersatz wissenschaftlicher Experimente.
Die vierte Sektion beschäftigte sich mit der Modellbildung zur Beschreibung technischen Wissens. Für Sebastian Gießmann (Humboldt Universität Berlin) stehen die Netzwerke der Telefonvermittlungen für Technik, Medium und Wissensgeschichte. Netzwerke ziehen sich materiell und symbolisch durch alle Praxis- und Wissensfelder und seien eine dominierende Kulturtechnik der Moderne. Als historischen Beleg diente ihm die Geschichte des Telefons, insbesondere die frühe Handvermittlung sowie die Selbstwahl, anhand derer das Verhältnis von Technik und Wissen dargelegt wurde.
Philipp Aumann (Deutsches Museum, München) zieht Karl Steinbuchs Lernmatrix als Modell heran, um Kybernetik als technisch bedingte Wissenschaft und als wissensbasierte Technologie zu beschreiben. In den 1950er- und 1960er-Jahren fand in der BRD kein linearer Transfer von Wissen statt, sondern es bildete sich ein heterogenes System heraus, in dem sich Wissensproduktion und die Entwicklung technischer Verfahren und Artefakte wechselseitig beeinflussten. Mit der Lernmatrix, einer elektronischen Schaltung, die erlernte Reflexe nachbildete, sollte die Computertechnik weiterentwickelt und die menschliche Nachrichtenverarbeitung veranschaulicht werden. Mit der Ablösung der Hardware durch die Programmierung von Software wurde aus der Lernmatrix ein Gegenstand der Erkenntnistheorie, genutzt von Akteuren aus Wissenschaft, Technik und Wirtschaft.
Zuletzt wurde in der fünften Sektion Forschung und Praxis im Computerzeitalter vorgestellt. Christine Pieper (Technische Universität Bergakademie Freiberg) fragte, ob das Überregionale Forschungsprogramm Informatik (ÜRF), ein Beispiel für „science-based industry“ oder „industry-based science“ war. Das ÜRF war 1971 Teil des 2. DV – Programms der Bundesregierung mit dem Ziel, Informatik als wissenschaftliche Disziplin zu etablieren. Damit verbunden war die Erhöhung der Studienplatzangebote und Forschungsgruppen in den Hochschulen im Bereich der „Kerninformatik“ und der Anwendung der Datenverarbeitung. Da der Wissenstransfer nicht von der Wissenschaft in die Industrie verlief, kommt Christine Pieper zu dem Schluss, dass Informatik zwar über das Programm zunächst formal als akademische Disziplin etabliert wurde, aber die Förderung anwendungsorientierter Technik für die Industrie eine geringe Rolle spielte.
Corinna Schlombs (University of Pennsylvania) untersuchte das Praxiswissen am Markt, insbesondere Nutzergruppen für Univac Computer. Sie erläuterte am Beispiel zweier Nutzergruppen, der Univac Scientific Exchange (USE) und Univac User Association (UUA), den Wissensaustausch beim Computerhersteller Remington Rand in den 1950er- Jahren. Die Wissensvermittlung erfolgte durch Nutzergruppen zwischen Nutzern sowie Nutzern und Herstellern und war Bestandteil der Technologieentwicklung. Die unterschiedlichen Herangehensweisen der Nutzergruppen bei der Generierung und dem Austausch von Technikwissen waren bedingt durch die Organisation der Gruppe, wie Mitgliedschaftsbedingungen, Grad der Formalisierung, Intensität der Kooperation, Verhältnis zu Remington Rand. Mit der Einrichtung von Nutzergruppen wurde ein Raum für den Wissensaustausch geschaffen, der frei von Fragen zu Eigentum und Konkurrenz war.
Zuletzt hielt Rudolf Seising (Universität Wien) einen Vortrag über epistemische, technische und unscharfe Momente im empirischen Forschungsprozess mit der Frage, ob Rheinbergers Experimentalsysteme auch „fuzzy“ sind. Mit Hilfe der so genannten Fuzzy Sets, ein mathematisches „Modellierungswerkzeug in der Wissenschaftstheorie“ können auch unscharf begrenzte Mengen erfasst und durch theoretische Strukturen konkreter Systeme wissenschaftliche Untersuchungen zugänglicher gemacht werden.
Nach diesem eher komplexen Thema wurde die Abschlussdiskussion eingeleitet, mit der Feststellung, dass die Technikgeschichte die Wissensgesellschaft bisher wenig thematisiert hat. Plädiert wurde dafür, nicht nur die Technikwissenschaften zu untersuchen, sondern auch das Wissen technischer Diszipline mehr in den Blick zu nehmen. Konkrete Forschungsfelder in Bezug auf Technikgeschichte und Wissensgesellschaft finden sich in der Informatik, im Zusammenspiel von Mathematik und Technik. Vor allem die angewandten Wissenschaften, z.B. die Mathematik und die Naturwissenschaften, bieten dazu Erklärungsansätze. Ebenso wäre ein Wechselspiel historischer Betrachtungen und theoretischer Modelle und die Einbeziehung von Erfahrung hilfreich, dem Forschungsgegenstand näher zu kommen. Letztlich wurden Quellenprobleme bezüglich der Dokumentation von Wissen gegenüber der besser erschlossenen Wissenschaften erkannt. Defizite wurden auch in der Einbeziehung von Innovationen, Alltagstechnik und Wissenstraditionen gesehen. Das Feld müsse unter anderem um eine Verwissenschaftlichungsdebatte erweitert werden, um die Technikgeschichte voranzubringen. Kritische Beobachter sahen diesbezüglich Altes mit neuen Begriffen belegt, z.B. Tacit Knowledge ist lediglich ein anderer Begriff für das Können (den Troitzsch/Weber schon in den 1960er-Jahren erläuterten). Deshalb sollte man über Umformulierungen und begriffliche Probleme in der Wissenschaft neu nachdenken. Darüber hinaus sei das „Handlungswissen“ der Technikwissenschaften, Medizin oder Sozialwissenschaften mit einzubeziehen. Die Diskutanten waren sich einig, dass die Debatte über „Technik und Wissen“ weitergeführt werden sollte. In welcher Form blieb jedoch offen.
Abschließend lässt sich sagen, dass die zahlreichen interessanten und interdisziplinären Beiträge das Thema „Technik und Wissen“ unter verschiedenen Aspekten beleuchteten. Das Ziel der Tagung, den Einfluss moderner Wissenschaft auf die Technikentwicklung zu dokumentieren und eine disziplinübergreifende Debatte um die Wissensgesellschaft aufzugreifen, wurde so erreicht. Neben der Gastfreundlichkeit der Universität Freiberg trugen sicherlich die Exkursionen in die Besucherbergwerke Reiche Zeche und Drei-Brüder-Schacht sowie die Führung im Freiberger Dom zum Gelingen der Tagung bei.
Die nächste Jahrestagung findet 2008 in der Universität Salzburg unter der Fragestellung „Wo steht die Technikgeschichte? Chancen und Herausforderungen des europäischen Vereinigungsprozess – eine neue Bestandsaufnahme der Technikgeschichte“ statt. Willkommen sind außer den Mitgliedern der Gesellschaft für Technikgeschichte, auch Nicht-Mitglieder aus interdisziplinären Institutionen und technikhistorisch Interessierte. Die Tagung endete mit einem Vorschlag sich 2009 dem Thema „Technik und Erfahrung“ zu widmen und einem bergmännischen „Glück auf“!