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Raum und Imperium. Kommunikationsgeschichte in Europa im langen 19. Jahrhundert

Veranstalter: Holm Sundhausen

Datum, Ort: 15.09.2004, Historikertag Kiel

Bericht von: Susanne Schattenberg, Humboldt-Universität zu Berlin
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Was tun, wenn die Donau in die falsche Richtung fließt, ins Nichts, ins Schwarze Meer, wohin niemand im Habsburger Reich Waren liefern möchte? Was tun, wenn der sibirische Generalgouverneur Nikolai Murawjow ohne Anweisung und ohne Kenntnis des Zaren in den 1850er Jahren die Amur-Provinz erobert, und der Monarch die ungefragte Erweiterung seines Reiches nur noch stillschweigend absegnen kann? Was tun, wenn die preußischen Provinzen soweit von einander entfernt liegen, daß man nur mühsam von Ost nach West gelangt? Die Antwort, so die Referenten der von Holm Sundhaussen (FU Berlin) geleiteten Sektion "Raum und Imperium. Kommunikationsgeschichte in Europa im langen 19. Jahrhundert", war immer die gleiche: Eisenbahnen bauen. Der seit den 1830er Jahren einsetzende und sich dann rasant entwickelnde Eisenbahnbau stellte das entscheidende Kommunikationsmittel des 19. Jahrhunderts dar, das half, die Großreiche zusammenzuhalten, den Raum zu durchdringen und die Zeit zu beschleunigen.

Gleichzeitig lieferte die Einrichtung moderner Kommunikationsmittel wie des Telegraphen aber auch Sprengstoff, um die Imperien zu destabilisieren: Einerseits konnten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Sibirischen Gouverneure fast in "Echtzeit" mit dem Zentrum kommunizieren, während zuvor die Kuriere des Zaren nicht selten ein Viertel Jahr unterwegs gewesen waren. Andererseits brachte der Telegraph auch den Funken der Revolution von 1905 in Windeseile zu den Eisenbahnarbeitern nach Sibirien. Die "Janusköpfigkeit" der modernen Errungenschaften stand daher als eine zentrale These im Mittelpunkt dieser Sektion; die modernen Kommunikationsmittel haben neben intendierten immer auch unintendierte, gegenläufige Effekte hervorgerufen.

So hoben die Vortragenden die Ambivalenz oder auch "Polyvalenz" bzw. "Multifunktionalität" der Kommunikationsmittel hervor, verliehen mit ihrer Sektion außerdem einem noch grundliegenderen, mehr paradigmatischen Gedanken Ausdruck: Das Panel verstand sich als Manifestation der These, daß Eisenbahngeschichte politisch ist und endlich aus dem Nischendasein der Technikgeschichte ins Rampenlicht der politischen Geschichte gezogen werden muß. Damit schlossen sich die Referent/innen der inzwischen etablierten, am eindrücklichsten von Karl Schlögel [1] vorgetragenen Forderung an, den Raum nicht nur als weitere Kategorie in die historische Analyse mit einzubeziehen, sondern ihn als entscheidendes Prisma zu benutzen, das hilft, die Geschichte neu zu perspektivieren und sie anstatt "chronologisch" "topographisch" zu erzählen.

"Kommunikationsgeschichte in Europa im langen 19. Jahrhundert" lautete der Untertitel der Sektion, und zu Recht wurde aus dem Publikum gefragt, was das Panel mit "Europa" zu tun habe. Offensichtlich ging es den Organisatoren nur darum, deutlich zu machen, daß sie bewußt auf eine deutsche Nabelschau verzichten und den Horizont über das Osmanische Reich bis nach Indien ausdehnen wollten. Daß die fünf Beiträge, die einfach und eindrücklich nur mit den Ländernamen ("Preußen", "Österreich-Ungarn", "Rußland", "Groß Britannien / Indien" und "Osmanisches Reich") betitelt waren, dann sehr unterschiedlich ausfielen, hatte weniger etwas mit den verschiedenen Reichen zu tun, als damit, daß letztlich doch jeder bzw. jede eigene Schwerpunkte setzte.

Martin Aust (CAU Kiel) begann mit einem Abriß preußischer bzw. deutscher Eisenbahngeschichte, in dem er v.a. drei Grundgedanken nachging: der nationalen Einigung durch die Eisenbahn, der Anbindung der polnischen Gebiete an das Reich und der Erschließung von Kolonien wie im Falle der von den Deutschen gebauten Bagdadbahn. Während Goethe 1828 frohlockte: "Mir ist nicht bange, daß Deutschland eins werde; unsere guten Chausseen und künftigen Eisenbahnen werden schon das Ihrige tun", waren die Militärs sehr ambivalent, weil sie die Verkehrsadern einerseits für die Truppenverschiebungen gebrauchen konnten, diese andererseits aber auch dem Feind dienen könnten. Dies war das Wesen der Eisenbahn: Es war ein Transportmittel, das beliebig beladen werden konnte, sei es mit den Revolutionären von 1848 oder mit den Truppen, die deren Aufstand niederschlagen sollten.

Auch Benjamin Schenk (LMU München) lieferte zunächst ein Datengerüst russischer Kommunikationsgeschichte. Zwei Jahre nachdem in Deutschland 1835 die erste Lokomotive gefahren war, konnte auch Rußland seine erste Bahn in Betrieb nehmen. Allerdings, sollte man einfügen, mit dem gravierenden Unterschied, daß zwischen Nürnberg und Fürth Händler pendelten, während der Zar sich eine Bahn zur bequemeren Fahrt in seine Sommerresidenz leistete. Neben diesem Luxus für die Zarenfamilie diente der Eisenbahnbau in Rußland bald vier Zielen, so Schenk: 1) bei Unruhen schnell Truppen in die Provinzen zu schaffen, 2) die innere Kolonisierung zu stützen, 3) die Reichsgrenzen zu sichern und 4) eine weitere Expansion zu ermöglichen. Was 1837 mit unbeschwerten Fahrten in die Sommerfrische begonnen hatte, endete 1917 mit dem Untergang der Autokratie: Eisenbahnbau und Industrialisierung hatten eine Arbeiterschaft geschaffen, vor deren Forderungen der Zar im März 1917 kapitulierte.

Während die Beiträge von Aust und Schenk bewußt wirtschaftgeschichtliche Aspekte ausblendeten und ihre Geschichte ganz an der These vom Herrschaftsinstrument "Eisenbahn" ausrichteten, wurde in den drei anderen Beiträgen deutlich, daß auf Wirtschaftsgeschichte bei der Diskussion der Eisenbahn nicht verzichtet werden kann. Auch im Publikum wurde die Frage aufgeworfen, ob das Aussparen dieser Seite der Geschichte nicht letztlich zu ihrer Verfälschung führt, zumindest dann, wenn entscheidende Impulse eben nicht aus der Politik, sondern von Händlern und Unternehmern kamen. Das wurde im Beitrag von Andreas Helmedach (Georg-Eckert-Institut Braunschweig) deutlich, der pointiert vortrug, daß in Österreich-Ungarn die Initiative für neue Verkehrswege eindeutig von der Wirtschaft ausging; 1837 fuhr die erste Eisenbahn, um Salz zu transportieren. Der Eisenbahnbau war da die Rettung, wo die Flüsse (Donau und Elbe) in die "falsche Richtung" flossen und angesichts unüberbrückbarer Höhenzüge auch keine Kanäle weiterhelfen konnten.

Während Aust und Schenk die These aufstellten, typisch für Imperien sei, daß das Eisenbahnnetz einem Stern gleiche, mit einem Knotenpunkt im Zentrum, zu dem wie Strahlen alle Strecken hinführten, konnte Helmedach diese These am Habsburger Reich nicht bestätigen. Das Verkehrsnetz habe die Doppelmonarchie mit ihren zwei Zentren Wien und Budapest abgebildet, ohne daß die Hauptstädte als Nadelöhr für alle anderen Ziele funktionierten hätten, die problemlos auch ohne die Durchquerung der Metropolen erreicht werden konnten. Auch in der Diskussion wurde die These von der Sternförmigkeit der Eisenbahnnetze in Imperien angezweifelt und gefragt, ob eine solche Struktur nicht vielmehr für zentralistische Nationalstaaten wie Frankreich typisch sei.

Helmedach präsentierte das Habsburger Reich als Land, das zeitweilig Eisenbahngeschichte geschrieben, auf dem Gebiet der Eisenbahnentwicklung Pioniertaten vollbracht habe und zu Unrecht in der Forschung immer wieder der Rückständigkeit verdächtigt werde - die Eisenbahn brachte den Fortschritt. Genau gegen diese These verwahrte sich Ravi Ahuja (RKU Heidelberg): Es sei ein Vorurteil und verlängere die Sicht der Kolonialherren, wenn man glaube, daß erst mit den Briten und dem Bau der Eisenbahn die Moderne nach Indien gekommen sei. Es gab bereits zuvor ein gut ausgebautes Verkehrswegenetz, das auch nach Beginn des Eisenbahnbaus lange Zeit wichtige Transportfunktionen erfüllte.

Auch bestritt Ahuja, daß die Eisenbahn entscheidend für die britische Herrschaft gewesen sei. Ähnlich wie Helmedach argumentierte er, daß die Eisenbahn aus rein kommerziellen Erwägungen gebaut worden sei. Dennoch verbanden die Briten einen gewissen Zivilisationsanspruch mit dem Bau der Eisenbahn, die der Bevölkerung neue zeitliche Rhythmen und Bahnhöfe prächtiger als die einheimischen Paläste bringen sollte. Um so entsetzter waren die Kolonialherren, als die Bevölkerung sich das neue Transportmittel aneignete, um damit schneller zu ihren Pilgerstätten zu gelangen.

Spätestens nach diesen zwei Vorträgen war deutlich geworden, daß Eisenbahngeschichte nicht nur in Wirtschafts- und Politikgeschichte unterteilt, sondern sowohl als positive Fortschrittsgeschichte als auch als negative Kolonialgeschichte erzählt wird. Suraiya N. Faroqhi (LMU München) fügte dem noch eine weitere Variante hinzu: Sie zeigte anhand des Osmanischern Reiches, wie beide Kräfte: Finanziers und Unternehmer auf der einen Seite, Politiker auf der anderen Seite, um die "richtigen" Eisenbahnlinien rangen. Dabei spalteten sich die politischen Interessen noch zusätzlich in die der Pforte einerseits und die z.B. des Deutschen Reichs beim Bau der Bagdadbahn andererseits. Da das Osmanische Reich seit 1875 bankrott war, mußte es sich mit externen Geldgebern arrangieren: Während letztere Stichbahnen bauen wollten, um das Land wirtschaftlich und strategisch zu erschließen, wollte die Regierung nur Verbindungsbahnen zulassen, um das Reich zusammenzuhalten und Istanbul mit den Grenzen zu verbinden.

Faroqhi wies noch auf einen weiteren spannenden - wirtschaftsgeschichtlichen - Punkt hin, der im übrigen keineswegs nur für das Osmanische Reich galt: Der Eisenbahnbau verursachte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Art Goldrausch, der am besten mit dem Boom der "New Economy" Ende der 1990er zu vergleichen ist. Risikokapital war gefordert, und viele windige Finanziers gingen an den Start, um das große Geschäft zu machen - oder pleite zu gehen.

Am Beitrag von Faroqhi wurde deutlich, wie eng wirtschaftliche und politische Interessen miteinander verzahnt waren bzw. miteinander harmonierten, konkurrierten oder kollidierten. Es ist richtig, daß das Monopol auf die Geschichte moderner Kommunikationsmittel den "Technikfreaks" streitig gemacht werden und endlich als Teil der Gesamtgeschichte in diese integriert werden muß. Wie das geht, führt im übrigen gerade eindrucksvoll das Museum der Deutschen Bahn in Nürnberg vor. Nur sollte, und das ist in diesem Panel deutlich geworden, dabei nicht ein wichtiger Teil dieser Geschichte, nämlich die Wirtschaftsgeschichte, als ungeliebtes Stiefkind vernachlässigt werden. Im Gegenteil kann entdeckt werden, daß auch die Wirtschaftsgeschichte "politisch" ist und nur dann die Geschichte des Raumes und seiner Durchdringung vollständig erzählt werden kann, wenn auch das Bedürfnis von Händlern und Fabrikaten, Waren zu transportieren, ernst genommen wird.

Damit sind wir bei den Menschen angekommen, die nach Marc Bloch im Mittelpunkt unserer Wissenschaft stehen: Geschichte ist "die Wissenschaft von den Menschen in der Zeit". Doch von ihnen war in diesem Panel wenig, allenfalls am Rande die Rede. Dabei sind gerade dies die spannenden Geschichten: daß mit Hilfe der Eisenbahn Einwohner der Habsburger Monarchie begannen, das Paßgesetz zu umgehen, das Reisen für sich entdeckten und in einem Monat ein Passagieraufkommen verursachten, das für das ganze Jahr prognostiziert worden war. Oder daß deutsche Ingenieure begannen, türkisches Personal auszubilden - allerdings mit mäßigem Erfolg. Oder daß die Briten bei der Einstellung der Eisenbahner auf eine strenge ethnische Segregation achteten, um Streiks vorzubeugen. Oder die Bahn Pogrome in Rußland in einem ganz anderen Ausmaß ermöglichte, weil die Täter sie zur Anreise nutzten.

Es ist klar, daß dies ein Panel war, das in erster Linie ein neues Paradigma postulieren wollte, ohne daß alle Referent/innen bereits hätten Ergebnisse vorlegen können bzw. ohne daß diese überhaupt auch zu diesen Themen selbst arbeiten. Allerdings wäre es gerade aus dieser Perspektive gut gewesen, weniger allgemeine Rahmendaten zu präsentieren und mehr Fragen zu formulieren, die deutlich machen, wohin die Reise durch Raum und Zeit gehen soll. Es bleibt spannend abzuwarten, ob am Ende einer solchen Kommunikationsgeschichte alt bekannte Geschichten durch die Einführung der Eisenbahn in den Erzählstrang "nur" neu perspektiviert werden oder ob am Ende einer solchen Narration tatsächlich ganz neue Erkenntnisse stehen.

Anmerkungen:

[1] Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003.