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Innovationsprozesse: Das Verhältnis USA - Deutschland

Veranstalter: VDI, Bereich Technikgeschichte

Datum, Ort: 26.02.2004-27.02.2004, Düsseldorf

Bericht von: Silke Fengler und Stefan Krebs, Lehrstuhl für Geschichte der Technik, RWTH Aachen
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Am 26. und 27. Februar 2004 fand in Düsseldorf die Technikgeschichtliche Jahrestagung des VDI zum Thema "Innovationsprozesse: Das Verhältnis USA - Deutschland" statt. In seiner Einführung wies der Vorsitzende des VDI-Bereichs Technikgeschichte WALTER KAISER (Aachen) noch einmal auf den aktuellen Bezug der Tagung zur politischen Diskussion über das deutsch-amerikanische Verhältnis hin. Denn nicht erst seit den Anschlägen vom 11. September 2001 wechseln sich Höhen und Tiefen im Verhältnis zwischen den beiden Staaten ab. Durch eine breit angelegte historische Betrachtung der Beziehungen zwischen den USA und Deutschland in den Bereichen Wissenschaft, Technik und Industrie wollte die Tagung zum Verständnis der aktuellen Diskussion beitragen.

In seinem Eröffnungsvortrag zeichnete HELMUT BRAUN (Regensburg) den Verlauf des Transfers deutscher Luftschifftechnik - die nach dem Ersten Weltkrieg als weltweite technische Referenz galt - in die Vereinigten Staaten zwischen 1918 und 1937 nach. Technische Inspektionen der Siegermächte und die Lieferung eines Zeppelins als Reparationsleistung führten zu einem zunächst unfreiwilligen Transfer deutschen Know-hows in die Vereinigten Staaten. Erst Ende der 1920er Jahre entwickelte sich dann eine freiwillige und fruchtbare Kooperation zwischen amerikanischen und deutschen Unternehmen. Nach der Katastrophe von Lakehurst hätte die zivile Luftschifffahrt nur mit dem von der US-Navy bereits erfolgreich eingesetzten neuen Traggas Helium weitergeführt werden können. Der innenpolitische Machtkampf zwischen Innenminister Harold Ickes und Außenminister Cordell Hull verhinderte jedoch die Lieferung von amerikanischem Helium an die deutschen "Zeppeliner" und besiegelte somit das Verschwinden der deutschen Luftschifftechnik.

JOCHEN STREB (Hohenheim) widmete sich in seinem Vortrag der Kernfrage, wie die staatliche Nachfrage- und Patentpolitik in Deutschland und USA die Herstellung von Synthesekautschuk in den 1930er Jahren und während des Zweiten Weltkriegs beeinflussten. Angesichts des niedrigen Marktpreises des Naturkautschuks - trotz steigender Nachfrage bei Industrie und Militär - musste der Staat in beiden Ländern Preis- und Absatzgarantien gewähren, um die IG-Farben bzw. die Standard Oil zur industriellen Produktion von Buna S zu bewegen. In den USA finanzierte der Staat sogar den Aufbau der kompletten Produktionsanlagen. Der Festpreisvertrag führte in Deutschland dazu, dass die IG Farben sich in erster Linie um Kostensenkungen durch Rationalisierung bemühte, um dadurch die Gewinne zu erhöhen. In den USA dagegen hatten Selbstkostenverträge zur Folge, dass die Synthesekautschukproduzenten Produktionssteigerungen "um jeden Preis" anstrebten. Durch den staatlich verordneten Patentaustausch hielten die US-Unternehmen technische Informationen bis zu Reprivatisierung der Synthesekautschukindustrie nach dem Krieg zurück. Die Monopolstellung der IG-Farben bot hingegen notwendige Anreize zur Entwicklung der technologischen Grundlagen für weiterführende Innovationen wie das "Cold Rubber", das in der Nachkriegszeit als "geistige Reparation" von den Amerikanern zur industriellen Reife weiterentwickelt wurde.

Am Beispiel der deutschen Kerntechnik und Gasturbinenentwicklung nach 1945 verwies ALEXANDER FARIDI (Aachen) in seinem Vortrag auf mikroökonomischer Ebene auf die komplementären Beziehungen, die zwischen nationaler Innovationstätigkeit und der Nutzung von Fremd-Know-how in Gestalt eines Technologieimports bestehen. Die Elektrokonzerne Siemens und AEG verfügten seit den 1920er Jahren in den Bereichen Forschung und Entwicklung über umfangreiche Kooperationsabkommen mit ihren jeweils amerikanischen Partnern Westinghouse und General Electric. Die beiden deutschen Unternehmen konnten in den 1950er Jahren an diese bewährten Austauschbeziehungen anknüpfen und insbesondere in der Kerntechnik auf die bereits erprobten Konzepte ihrer amerikanischen Partner zurückgreifen. Ohne diesen reichlichen Technologiefluss aus den USA hätte sich der verhältnismäßig schnelle und erfolgreiche Einstieg der beiden Unternehmen in die Kerntechnik wohl kaum vollzogen. Allerdings zeigt gerade die vergleichsweise unproblematische Integrierbarkeit von kerntechnischen Komponenten amerikanischer Bauart in die deutsche Kraftwerkstechnik, wie sehr dieser Erfolg auf dem hohen Stand der Technik fußte, den deutsche Unternehmen im Bereich des Baus konventioneller Dampfkraftwerke bis 1945 erlangt hatten.

In seinem Vortrag zur "technological gap"-Debatte in den 1960er Jahren warf ANDREAS FICKERS (Utrecht) die Frage auf, ob wirtschaftswissenschaftliche Theorien über die angebliche technologische Lücke zwischen Europa und den USA geeignet sind, die Entstehungsgeschichte und Wirkung dieser Diskussion adäquat zu beschreiben. Anhand von drei Fallstudien aus der Kommunikationstechnologie versuchte er den Nachweis zu erbringen, dass die europäische Angst vor einem Zurückbleiben hinter dem amerikanisch dominierten technischen Fortschritt faktisch unbegründet war. Sowohl wirtschaftlich als auch technisch konnten die Europäer der "amerikanischen Herausforderung" die Stirn bieten. Eine diskursgeschichtliche Perspektive macht dagegen deutlich, dass es um ein symbolisches Kräftemessen zwischen den USA und Europa ging. Im Ergebnis bereitete die "gap"-Debatte in der planungsfeindlichen BRD den Weg für staatliche Forschungspolitik in den Zukunftstechnologien Raumfahrt und Informatik.

HARTMUT HIRSCH-KREINSEN (Dortmund) zeigte in seinem Vortrag, dass es bei der Technikgenese anstelle des "einen besten Weges" durchaus alternative nationale Entwicklungspfade geben kann. Seine Hypothese, dass die länderspezifischen sozialen, ökonomischen und politischen Entwicklungs- und Anwendungsbedingungen maßgeblich für den eingeschlagenen Entwicklungspfad verantwortlich sind, führte er exemplarisch für die amerikanische und deutsche Entwicklung von NC-Werkzeugmaschinen von Beginn der 1960er bis in die 1980er Jahre vor. Das in den USA militärisch induzierte Programm strebte eine möglichst vollständige Automatisierung des Werkstattbetriebs an, was den großindustriellen Anwendern und ihrem Mangel an Facharbeitern entgegen kam. Dagegen favorisierten die deutschen Werkzeugmaschinenhersteller aufgrund anderer sozialer, ökonomischer und betriebstruktureller Voraussetzungen das Konzept einer begrenzten Automatisierung mit möglichst hoher Flexibilität. Das deutsche Konzept war langfristig erfolgreich und führte Mitte der 1980er Jahre zur Ablösung der amerikanischen "Vorherrschaft" durch die deutsche Werkzeugmaschinenindustrie.

Im Mittelpunkt des Beitrags von CHRISTIAN KLEINSCHMIDT (Bochum) stand die Frage nach Mentalität und Lernverhalten deutscher Unternehmer im Hinblick auf die "reference society" USA. Diese diente bereits seit den 1920er Jahren als Orientierungsgröße für unternehmerische Entscheidungsprozesse. Deutsche Unternehmer sahen sich angesichts der beinahe uneingeschränkten technischen, militärischen und ökonomischen Überlegenheit der USA in den 1950er Jahren häufig in einer Schülerrolle. Im Vergleich dazu wähnten sie sich gegenüber Japan aufgrund des vermeintlichen eigenen technologischen und wirtschaftlichen Vorsprungs in der Lehrerrolle. Dies führte auf deutscher Seite mitunter zu Lernblockaden, mit der mittelfristigen Konsequenz von Innovationsverzögerungen gerade im Bereich des Qualitätsmanagements.

SUSANNE HILGER (Erlangen-Nürnberg) untersuchte in ihrem Vortrag auf mikro-ökonomischer Ebene die Amerikanisierung deutscher Elektrounternehmen im Bereich der Computerentwicklung. Nach dem Zweiten Weltkrieg stellte der Anschluss an die US-Computertechnik für die deutschen Elektrounternehmen das oberste Gebot dar. Den durch staatliche Forschungsprogramme angeschobenen Technologievorsprung der US-Computerindustrie durch eigene Forschung und Entwicklung aufzuholen, überforderte aber die Finanzkraft der deutschen Firmen. Ein Weg zur Minimierung der Entwicklungskosten war der Erwerb amerikanischen Know-hows, der dann auch in den 1960er Jahren von den deutschen Elektrounternehmen beschritten wurde. Die weitgehende Ablehnung amerikanischer Unternehmenswerte und -traditionen veranlasste die deutschen Empfänger zu einer selektiven Adaption amerikanischen Know-hows. Zwar wurden amerikanische Technik und Herstellungsverfahren eingeführt, zu einer Amerikanisierung der Unternehmensführung und Betriebsorganisation kam es aber in den späten 1960er Jahren nicht.

HARM SCHRÖTER (Bergen) setzte sich in seinem Vortrag mit der Einwirkung Amerikas auf die deutsche Wirtschaft in den Jahren 1970 - 2000 auseinander. Nach dem Abschluss des technologischen Aufholprozesses in den 1970er Jahren rückten die USA für die europäischen Staaten vorübergehend als Orientierungsgröße in den Hintergrund. Seit Mitte der 1980er Jahre gewann das amerikanische Modell jedoch wieder an Attraktivität. Der Technologietransfer nach Deutschland, etwa im Bereich der Computertechnik oder der Genforschung, blieb im Umfang begrenzt. Stattdessen übernahm die deutsche Wirtschaft in großem Stil amerikanisch geprägte Organisationsmuster. Nicht nur die Vergütung von Spitzenmanagern passte sich amerikanischen Maßstäben an, auch die Shareholder-Value-Ideologie konnte sich als unternehmerische Leitlinie auf breiter Front durchsetzen. Deregulierung und Privatisierung ehemals staatlicher Unternehmen sind weitere Merkmale einer neuen Amerikanisierungswelle, die heute möglicherweise ihren Höhepunkt überschritten hat.

WOLFGANG SCHEUNEMANN (DaimlerChrysler AG) zeigte in seinem Vortrag sehr anschaulich, mit welchen Problemen Unternehmen im Bereich Forschung und Entwicklung konfrontiert werden, wenn sie auf internationaler Ebene fusionieren. Denn trotz der Angleichung der Ausbildungssysteme in den vergangenen Jahren sind weiterhin große Unterschiede zwischen der amerikanischen und deutschen Ingenieurskultur zu konstatieren. Neben den Sprachproblemen gibt es wesentliche Kultur- und Mentalitätsunterschiede, die eine Verständigung zwischen den deutschen Ingenieuren und ihren amerikanischen Kollegen erschweren. Das Ziel bei DaimlerChrysler ist jedoch nicht die Fusion der beiden Ingenieurskulturen. So soll den Ingenieuren bei Chrysler nicht das deutsche System aufoktroyiert werden, vielmehr wird versucht, durch gegenseitiges Lernen die Zusammenarbeit langfristig zu verbessern.

Die Tagung beleuchtete vielfältige Facetten des deutsch-amerikanischen Verhältnisses, wobei der Schwerpunkt auf der Beschreibung der Bedingungen lag, unter denen der wechselseitige Transfer von Know-how und Technologie stattfindet. In der Diskussion mit den Referenten wurde deutlich, dass der vielfach verwendete Begriff der "Amerikanisierung" im Zusammenhang mit dem Transferprozess noch deutlicher gefasst werden muss. Offenbar handelt es sich um ein Phänomen, das neben der bundesdeutschen Wirtschaft weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens der Nachkriegszeit bis heute betrifft. Vor diesem Hintergrund wäre eine breitere Einbindung von kultur-, sozial- und politikwissenschaftlichen Zugängen sinnvoll gewesen, um das Tagungsthema über technik-, wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Fragestellungen hinaus zu erweitern.