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Geschichtswissenschaft und Internet: Entwicklungen, Zwischenbilanz und Perspektiven

Veranstalter: 44. Deutscher Historikertag

Datum, Ort: 11.09.2002, Halle a.d. Saale

Bericht von: Daniel Burckhardt, Andrea Esmyol
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Das Internet hat sich als Arbeitsmittel in den Geschichtswissenschaften durchgesetzt, wird aber je nach Person und Aufgabenbereich ganz unterschiedlich intensiv genutzt. Die von Wilfried Nippel (Berlin) geleitete Sektion beleuchtete den derzeitigen Stand der Dinge in der Nutzung der neuen Medien durch die historische Forschung. Neben Referaten zu Problemen und Perspektiven des elektronischen Publizierens, der Digitalisierung von Archiven, der historischen Fachkommunikation und virtuellen Lernumgebungen wurde die wichtige Frage der Finanzierung von Digitalisierungsprojekten nicht vergessen.

Wilfried Nippels knappe Bestandesaufnahme zur Akzeptanz des Internet in den historischen Fachkreisen wurde durch Konrad Jarausch (Potsdam/Chapel Hill) weiter ausgeführt. Die Etablierung des Mediums Internet brachte gleichzeitig dessen Entzauberung. Der Kollaps des Neuen Marktes und ständig wiederkehrende Klagen über Pornographie und rechtsextremes Gedankengut zeugen davon. Der nüchterne Blick stellt dagegen fest: Gedruckte Findmittel wurden von Online-Katalogen abgelöst, die Vorbereitung des Historikertages ist vielfach über die Web-Site und per E-Mail erfolgt, elektronische Zeitschriften entstehen vielerorts, unabhängig davon, dass auch die jüngere Generation bevorzugt in einer etablierten Zeitschrift publiziert. Durchschlagend ist dagegen der Erfolg der elektronischen Post: Eine E-Mail-Adresse ist Pflicht geworden; die Zahl der Mailinglisten wächst und wird von einem breiter werdenden Abonnentenkreis intensiv genutzt. Anstehende Studienreformen werden virtuelle Lehrangebote - Diskussionslisten für Seminare und Web-basierte Einführungsveranstaltungen - vorantreiben. Ungeklärt ist, wer in Zukunft den Aufbau und Unterhalt solcher Projekte finanziert. In den USA ist die Unterstützung durch das National Endowment for the Humanities zentral, in Deutschland haben in erster Linie erst von einzelnen Universitäten und mittlerweile von der DFG geförderte Einzelinitiativen Bedeutung erlangt. Deren dauerhafte Absicherung erfordert jedoch neue, breit abgestützte Trägerstrukturen.

Ulrich Wengenroth (München) verdeutlichte im anschließenden Abriss zur Geschichte der elektronischen Datenverarbeitung das Wechselverhältnis von technologischer Entwicklung und gesellschaftlicher Aneignung.
Die gegen Ende des 2. Weltkriegs für langwierige Berechnungen der militärischen und physikalischen Forschung entwickelten elektronischen Rechner und Programme ermöglichten Banken und Versicherungskonzerne, die ein schnelles Wachstum bedrohende „diseconomy of scale“ bei Buchführungsprozessen zu durchbrechen. Dokumenterstellung, Datenspeicherung und Abfrage sowie Finanzanalyse und Buchhaltung bildeten in der Folge die drei Hauptanwendungsbereiche der betrieblichen Informationstechnik. Eine gemeinsame Basistechnologie - die Elektronik - erleichterte die Integration von Datenverarbeitung und Datenübermittlung. Die daraus hervorgehende Delokalisierung sowie die interaktive Programmsteuerung und Mehrbenutzerfähigkeit der Systeme transformierten die EDV in den 60er und 70er Jahren in eine so genannte „self-service economy“.
Die rasante Entwicklung der Rechenleistung, „Moore’s law“ sieht alle 18 Monate eine Verdoppelung vor, steht in deutlichem Gegensatz zu den Schwierigkeiten beim Aufbau einer Industrie zur Programmentwicklung. Ergebnis dieser „Softwarekrise“ war die Reduktion der Anwendungsvielfalt auf wenige Grundkomponenten und der durchgehende Einsatz von Standard-Software: Programmiert wird nicht, was der Anwender wünscht, sondern was sich aus bestehenden Modulen einfach und kostengünstig bauen lässt. Die konsequente Angleichung betrieblicher Organisationsabläufe an Pakete wie SAP hat bereits viele Universitäten erreicht. Die Gefahren dieses „soft-determinism“ sind allgemein bekannt; Risiken und Kosten einer Nicht-Anpassung scheinen aber noch höher zu sein.
Ubiquität und Semiotisierung sind Zeichen einer ausgereiften Alltagstechnik. Wie zuvor beim Automobil – „BMW baut nicht Autos, BMW baut Gefühle“ – tritt das mittlerweile auch beim PC das im Alltagsbetrieb nicht mehr nutzbare technologische Potential hinter emotionale Effekte zurück. Arbeitserleichterungen durch die Einführung und Verbesserung von EDV-Technik, etwa durch ein Textverarbeitungsprogramm, führten aber nicht zu Zeiteinsparungen, sondern wurden stets durch Erhöhung der Ansprüche kompensiert. Der Computer-Einsatz fügt sich in bestehende Strukturen ein und hat Gefälle - arm und reich, Stadt und Land - eher weiter zementiert: Web-Server ballen sich in den traditionellen Zentren der Finanz- und Dienstleistungsindustrie, während die Netznutzungsdichte ein verlässlicher Spiegel der globalen Einkommens- und Reichtumsverteilung ist.

Frank Bischoff (Münster) erkennt für die Welt der Archive in der zunehmenden Digitalisierung die „Zukunft des Vergangenen“ und informiert über Stand und Perspektiven im Angebot der Online-Ressourcen von Archiven. Trotz der zunehmenden Präsentation im Internet ist der Anteil deutscher Archive mit 400 eigenständigen Websites im internationalen Vergleich eher gering.
Die neuen Anforderungen an die Archivwissenschaften durch die Nutzung der neuen Medien können eine Dynamik auslösen, deren Konsequenzen nicht absehbar sind. So lässt sich die archivarische Doktrin der Provenienzorientierung nicht auf digitale Findmittel übertragen. Für die Entwicklung von nutzerorientierten Suchmaschinen ist hier ein umfassendes Umdenken erforderlich. Der Radius der Archivarbeit muss erweitert werden zu digitaler Verwaltung und Betreuung, das Arbeitsprofil der Archivare verändert sich durch den Einsatz der neuen Medien. So verlangt die Retrokonversion von Archivalien eine formal und inhaltlich tiefere Erschließung.
Durch Drittmittelförderung konnten viele Digitalisierungsprojekte ins Leben gerufen werden. Eine Vorreiterrolle in der Digitalisierung von Archivalien besitzt bekanntlich das Duderstädter Archiv, das exemplarisch einen geschlossenen Archivbestand digitalisierte und mit einer erschließenden Datenbank kombinierte.
Ein weiterer Meilenstein war die Entwicklung der Erschließungssoftware für Archivalien MIDOSA, eine Kooperation der Archivschule Marburg und der Landesarchivdirektion Baden-Württemberg. Die aktuelle Version MIDOSAonline ist ein lizenzfreies, offenes Software-System zur Erstellung von archivischen Findmitteln für navigierende, strukturgestützte oder volltextbasierte Recherche.
Das Hauptstaatsarchiv Düsseldorf konvertiert derzeit in dem DFG-Projekt "Entwicklung von Werkzeugen zur Retrokonversion archivischer Findmittel" Erschließungsdaten von Archivalien. Gleichzeitig soll das bis 2003 angesetzte Projekt in einer Machbarkeitsstudie Anhaltspunkte für die weiteren Planungen im Bereich der Retrokonversion archivischer Findmittel liefern.
In den letzten Jahren konsolidierte sich neben der Internetpräsenz von Archiven insbesondere die innerarchivische elektronische Kommunikation. Seit 1998 existieren archivinterne Mailinglisten und seit 2001 ein Online-Forum zur Beantwortung archivischer Fragen, Fachaufsätze, etc. - mittlerweile ein unentbehrliches Kommunikationsmittel.
Findbücher sind noch immer nicht alle online zugänglich. Dies ist aus finanziellen und inhaltlichen Gründen auch perspektivisch nicht flächendeckend möglich.
Bis 2005 sollen jedoch 1.000 Findbücher aus 430 Archiven in einer gemeinsamen Umgebung online geschaltet sein. Ein Desiderat sind hier gemeinsame Verzeichnisstandards, die es in Deutschland im Unterschied zu den USA noch nicht gibt. Die Weiterentwicklung von XML als Austauschformat wird einen übergreifenden technischen Standard bereitstellen. Informationsverbünde mit übergreifenden Portalen sollen Laien die digitale Archivsuche zukünftig erleichtern. Ein E-Learning-Angebot als virtuelle Einführung in die Archivbenutzung wäre wünschenswert. Eine neue archivarische Aufgabe stellt die Auswertung und Archivierung von Internet- und Intranetseiten öffentlicher Behörden.
Archivische Internetangebote bleiben eine infrastrukturelle Herausforderung für die Archivwissenschaften. Noch ist der digitale Bestand oft ein Einzelfall, die Gewährleistung einer nachhaltige Pflege und Erweiterung bleibt problematisch.

Die Referate von Rüdiger Hohls (Berlin), Gudrun Gersmann (München) und David Gugerli (Zürich) zur Fachkommunikation, elektronischem Publizieren und virtuellen Lernumgebungen basierten auf einer Vielzahl praktischer Erfahrungen aus dem Projektalltags.
Fachverlage, Zeitschriften, persönliche Netzwerke, Rundfunk und Fernsehen sowie die Tages- und Wochenpresse waren die klassischen Produzenten und Verbreiter von fachrelevanten Informationen. Die in erster Linie über das Internet neu publizierten Angebote – bei H-Soz-u-Kult sind es die Rubriken Chancen, Rezensionen, Terminankündigungen, Foren und Tagungsberichte – orientieren sich stark an etablierten Formaten. Das Erfolgsrezept – über 6.100 Abonnenten und gegen 165.000 Seitenabrufe im Monat – beruht auf den spezifischen Vorteilen der Distribution über den Mailverteiler und über die Web-Site: Hohe Aktualität und breite Reichweite bei weitgehender Kostenfreiheit für die Leser. Um trotz des hohen Tempos die Qualität der Artikel aufrechtzuerhalten, ist die Betreuung durch eine spezialisierte Fachredaktion unabdingbar. Der Vergleich mit anderen H-Net-Listen zeigt, dass die Redaktion sehr stark das inhaltliche Profil vorgibt, während die Sprache der Listenbeiträge die globale Verbreitung der Rezipienten bestimmt.

Gudrun Gersmann konzentrierte sich auf einen Teilbereich des elektronischen Publizierens, die E-Journals, also ausschließlich im Netz verfügbare Angebote, die keine direkten Replikate gedruckter Zeitschriften sind. Die zu einer Ausblutung der Bibliotheken führende Explosion der Abo-Preise der grossen Fachverlage, höhere Aktualität, Interaktivität sowie die Möglichkeiten der Verlinkung und Erweiterung mit multimedialen Elemente – bewegte Bilder und Ton – sind die Ausgangspunkt und Chancen des Medienwechsels. Da viele E-Journals nach wenigen Ausgaben ihr Erscheinen wieder einstellen, erstaunt es kaum, dass die meisten Autoren den Abdruck in einer der etablierten Zeitschriften vorziehen. Mit der Anknüpfung an Traditionen – bei den Zeitenblicken wurde bewusst der im Netz keineswegs zwingende bandweise Veröffentlichungszyklus gewählt und die ISSN deutlich sichtbar auf jeder Seite aufgeführt – sowie tragfähige Finanzierungsstrukturen sollen solche Zurückhaltung überwinden helfen. Es bleibt offen, ob E-Journals auf diese Weise in direkte Konkurrenz mit den etablierten Fachzeitschriften treten werden, oder ob sich ihre Überlegenheit auch in Zukunft auf Teilbereiche wie etwa Rezensionen beschränkt.

David Gugerli knüpfte mit einem Bericht über die webclass, eine „aus der Verzweiflung über die ineffiziente, einer wissenschaftlichen Diskursgemeinschaft unwürdige Broadcasting-Situation des Vorlesungsbetriebs generierte“ Lernumgebung zur Technikgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, an die „Produktshow“ seiner beiden Vorredner an. Basis für die Einzelmodule zu den Themen Körper, Kommunikation, Energie und Umwelt bildeten Powerpoint-Präsentationen aus Vorlesungen, die aber komplett umgearbeitet und auf die spezifischen Beschränkungen des Lernens am Bildschirm – „das Internet ist sehr weit, hat aber sehr wenig Platz“ – zugeschnitten werden mussten. Die Realisierung der WebClass erfolgte in Zusammenarbeit mit Barbara Orland und Kristina Isacson. Die im Gegensatz zur Hörsaalpräsentation fehlende Spontaneität wurde durch eine konsequente grafische Struktur, präzise Statements, als Quellen statt als bloße Illustrationen eingesetzte Bilder, Multimedialität, weiterführende Links sowie sorgfältig formulierte Aufgabenstellungen zu kompensieren gesucht. Der durch die Arbeit zu Hause oder in der Bibliothek verlorene Austausch wird durch E-Mail-Diskussionen und persönliche Treffen wieder hergestellt. Das bescheiden formulierte Ziel der Ausbildung am Bildschirm sind „Bildungsinseln statt Bildungslücken“, die Sensibilisierung für historische Problemlagen und Deutungsmuster sowie die Konstruktion von Zusammenhängen als selbständige intellektuelle Leistung. „Wenn Studenten kapieren, dass Geschichte nie zu Ende erzählt wird, ist vieles gewonnen.“

Jürgen Bunzel (Bonn/DFG) gab in seinem Vortrag einen Überblick über aktuelle und zukünftige Schwerpunkte des DFG-Referats Literaturversorgung und Informationsinfrastruktur im Bereich der Geisteswissenschaften. Insgesamt 15 Prozent vom Gesamtbudget der DFG wird für Projekte zur Verbesserung der wissenschaftlichen Informationsstruktur u.a. auch in den Geisteswissenschaften aufgewendet. Hierzu zählt die Förderung gedruckter Medien parallel zu deren Digitalisierung. Mit der Zunahme der elektronischen Publikationen, einzelner Themenportale und vieler anderer dezentraler Internetangebote gewinnt die Entwicklung eines zentralen Zugangsportals zu geisteswissenschaftlichen Online-Ressourcen an Bedeutung.
In diesem Zusammenhang steht das Konzept der Virtuellen Fachbibliothek mit ihrem hybriden und digital vernetzten Publikationsangebot. Gleichzeitig bietet die Virtuelle Fachbibliothek die Vorteile der klassischen Bibliothek durch ein virtuelles System des Freihandbestandes und einem direkten Zugriff auf Dokumente, als Referenz oder als digitalen Volltext. Integriert werden sollen als weiteres Angebot fachbezogene Informationsdienste und eine virtuelle Forschungsbibliothek, die auch entsprechend aufbereitete Ausstellungen und Foren zur Verfügung stellt. Der Mehrwert einer Virtuellen Fachbibliothek besteht in jedem Fall darin, dass sie jederzeit zugänglich ist und neben Personalisierungsmöglichkeiten einen Überblick über dezentrale Ressourcen erschließt. Zusätzlich gewährleistet die fachspezifische Erschließung von qualitativ ausgewerteten Internetressourcen ein differenziertes Recherchieren. Die Sondersammelgebiete der Bibliotheken bieten sich als potentielle Partner der Virtuellen Fachbibliotheken an. Ungelöste technische Probleme bestehen in der Einbindung der verschiedenen Datenformate in das Angebot der Virtuellen Fachbibliotheken. In der derzeit akuten Finanzierungskrise der Bibliotheken - u.a. durch erhebliche Preissteigerungen für (naturwissenschaftliche) Zeitschriftenabonnements - sollte trotz des Potenzials der Kostensenkung durch E-Journals nicht außer acht gelassen werden, dass auch für elektronische Zeitschriftenangebote Kosten, z.B. für die Bereitstellung der technischen Voraussetzungen, anfallen. E-Journals sind als Zusatzangebot zu verstehen, sie sollen Prints auch langfristig gesehen nicht ersetzen. Jedoch bieten sich hier, z.B. für Dissertationen, neue Publikationsmöglichkeiten. Bereits zwei Drittel der deutschen Hochschulen mit Promotionsrecht haben sich dem DFG-Projekt „Dissertationen online“ angeschlossen.
Die Förderung der Digitalisierung der kulturellen Überlieferung durch die DFG in einer Vielzahl von Einzelprojekten in Museen, Archiven und Bibliotheken erwies sich als sinnvoll. Als nächste Aufgaben bleiben die Entwicklung von Grundlagen für ein Gesamtkonzept zur Digitalisierung geisteswissenschaftlicher Ressourcen und ein fachbezogener, zentraler Zugriff über eine Metasuchmaschine. Der Aufbau von Infrastrukturen für themenorientierte Netze wird die kooperative Forschung, wissenschaftliche Kommunikation und Publikation nachhaltig fördern.

In der anschließenden Diskussionsrunde stellte sich die Frage nach dem Problem der Langzeitarchivierung von Daten. Keine Alternative bietet sich derzeit zum notwendigen regelmäßigen Datenträgerwechsel durch Umkopieren. Als Standardformat wird auch XML eines Tages abgelöst werden. Die Langzeitarchivierung sollte von spezifischer Software unabhängig erfolgen. Angesprochen wurde ferner die Integration eines Lehrangebots für Studierende, um den Umgang mit den neuen Medien zu schulen.
Zur Frage der Kooperation der Virtuellen Fachbibliotheken mit den Bibliotheksverbänden wurde die gemeinsame Nutzung der Verbundkataloge angesprochen. Auf diesem Wege gestaltet sich die Erschließung von Informationsangeboten arbeitsteilig. Abschließend wurde angeregt, digitalisierte Informationen durch aktive Verbreitung weltweit zu streuen und multiple Kanäle über dezentrale Server zu öffnen.