Archivworkshop für angehende Technik- und WirtschaftshistorikerInnen, München 2002
München, 11. und 12. Juli 2002
Protokoll: Anne Sudrow, Heike Weber
Der durch die GTG ermöglichte Workshop richtete sich an angehende Technik- und WirtschaftshistorikerInnen, um diesen im Dialog mit routinierten Archivaren bzw. Archivbenutzern das "tacit knowledge" langjähriger Archiverfahrung zu vermitteln. Anwesend waren 19 TeilnehmerInnen aus verschiedenen Disziplinen, die in ihren derzeitigen Forschungsprojekten diverse Themen der Wirtschafts- und Technikgeschichte bearbeiten.
Die Vorträge von und die Gespräche mit den vier ReferentInnen - Stephan Lindner und Reinhold Reith vertraten die Nutzerseite, Eva Moser und Rainer Stahlschmidt die Archivarseite - zeigten auf, wie ein Archivaufenthalt sinnvoll von zu Hause aus vorbereitet werden kann, welches Verhalten vor Ort im Archiv angemessen ist und was nach der Fertigstellung der Forschungsarbeit zu tun ist. Am zweiten Tag wurden das Archiv des Deutschen Museums und das Bayerische Wirtschaftsarchiv besucht.
Zur Nutzerperspektive
Insgesamt kam die grosse Bedeutung des Internets - sowohl auf Nutzer-, als auch auf Archivseite - zum Ausdruck. Neben den gedruckten Hand- und Findbüchern in Bibliotheken müssen die Webpages der Archive im Internet nunmehr als wichtigste Vorinformationsquelle für die Archivnutzung angesehen werden. Die Gespräche unter den Nutzern zeigten vor allem, dass diese verschiedene "Archivkulturen" wahrnehmen: Französische Archive erfordern eine stark formalisierte Umgangsweise; deutsche Hauptstaatsarchive erfordern je nach Bundesland möglicherweise eine verschieden detailliert ausgeführte Anfrage, während beim Bundesarchiv der Schweiz inzwischen Anfragen per Internet möglich sind; private Archive haben andere Umgangskulturen als staatliche Archive etc. Zur Sprache kamen ausserdem zahlreiche praktische Tips, beispielsweise wie ein erstes Anschreiben zu formulieren ist, wie hierzu Formulierungen aus dem Archivgesetz (z.B. "Personen der Zeitgeschichte") als Argumente zu nutzen sind, und diverse Verhaltensroutinen, etwa die Empfehlung, vor Abreise nochmals im Archiv nachzufragen, ob die Archivalien derzeit verfügbar sind, oder die zurückliegende Korrespondenz unbedingt mit ins Archiv zu nehmen.
Zur Vorrecherche von zu Hause aus gehört neben der Kenntnis der relevanten Literatur (Sekundärliteratur, aber auch potentielle Jubiläumsbände, Rechenschaftsberichte etc.) und der Nutzung der Internetressourcen das Zurhandnehmen der vorhandenen Literatur zu Archivbeständen (z.B. "Archivbestände zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Weimarer Republik", "Les archives du monde du travail" etc.). Desweiteren sollten die Nutzer sich mit der Verwaltungsgeschichte des betreffenden Themas vertraut gemacht haben, um ermessen zu können, wo etwaige Bestände gelandet sein könnten.
Bei der Ankunft im Archiv lohnt neben der selbstverständlichen Durchsicht der Findbücher die Einsicht in die hier gesammelten Publikationen, welche auf demselben Bestand fussen. Hinsichtlich der Findbücher wurde darauf hingewiesen, bei diesen auch die Einleitungen zur Kenntnis zu nehmen, da hierin beschrieben wird, wie der Bestand gewachsen ist, wie er überliefert wurde, was kassiert wurde etc. Zudem gilt es, die Geschichtlichkeit des Verzeichnisses zu bedenken. Ausserdem sollte man so früh wie möglich aus den Findbüchern Stichproben ziehen, also Probeakten bestellen, um ermessen zu können, mit welchen Zeitspannen und Handlungsroutinen zu rechnen ist und um einen vom Umfang her angemessenen "Vorrat" an Akten zur Bearbeitung aufzubauen. Für die für eine effektive Zusammenarbeit ausschlaggebende Kommunikation zwischen Archivaren und Nutzern wurde betont, dass der/die NutzerIn sein/ihr Thema, auch evtl. heikle Fragen, immer offenlegen solle; die Furcht, Archivare würden das Thema "stehlen", ist meist unbegründet. Auch wenn staatliche Archive gesetzlich zur Einsichtgabe verpflichtet sind, gilt als oberste Verhaltensrichtlinie für die Nutzer Höflichkeit; Benutzungsbedingungen vor Ort, beispielsweise was das Kopieren und die Menge der bestellbaren Archivalien angeht, sind daher unbedingt einzuhalten. Vor Ort im Archiv sollten auch andere NutzerInnen befragt werden, da ihre Erfahrungen und Kenntnisse hilfreich sein können. Nach der Beendigung der Forschungsarbeit sollte unbedingt, wie dies ja auch in den Nutzeranträgen vorgesehen ist, die Publikation eingeschickt werden. Auch wurde dazu ermuntert, dem Archiv mitzuteilen, wo weitere wichtige Unterlagen gefunden wurden.
Nicht alles lässt sich jedoch planen: "Es gibt Akten, die kann man nicht suchen, sondern nur finden." Wie viel zu kopieren ist, wie ein riesiger Aktenbestand am effektivsten zu erfassen ist und ähnliche Fragen sind und bleiben letztlich lokal und individuell verschieden. Archive seien Biotope; hier tummeln sich unter Umständen kuriose Gestalten, in manchen Archiven "ersitzt" man sich seine Rechte, und einige Archivare mögen sich wie "Hüter des Grals" verhalten. War ein Archiv unkooperativ oder konnten Archivalien wegen Sperrfristen nicht eingesehen werden, so sollte dies jedoch unbedingt in der Einleitung der Veröffentlichung benannt werden - auch, um spätere Vorwürfe, die betroffenen Quellen nicht benutzt zu haben, zu vermeiden.
Zur Archivarperspektive
"Die größten Feinde des Archivs: Silberfischchen und Benutzer" - diesem Cartoon, den Eva Moser zeigte, stand die Selbstdefinition der beiden ArchivarInnen des Workshops als Bewahrer UND Vermittler diametral entgegen. Moser und Stahlschmidt legten in ihren Darstellungen offen, welche Verhaltensweisen der NutzerInnen von Archivseite geschätzt werden: Die erste Kontaktaufnahme mit einem Archiv sollte unbedingt in Form einer schriftlichen Anfrage erfolgen (Brief oder email). Dies gibt den ArchivarInnen die Möglichkeit, auf einen komplexen Sachverhalt angemessen einzugehen, was am Telefon in dieser fundierten Form nicht möglich ist. Das Anschreiben sollte so knapp wie möglich gehalten sein und kein globales Generalthema, sondern konkrete Fragestellungen mit zeitlicher und regionaler Eingrenzung formulieren, so daß eine Umsetzung in arbeitsökonomischer Weise für den/die BearbeiterIn im Archiv durchführbar ist. Grundsätzlich sei es notwendig, die eigene wissenschaftliche Fragestellung in behördliche Zuständigkeiten (Provenienz als Strukturprinzip) und Begrifflichkeiten zu übersetzen. Als Zumutung werde eine lange Liste mit Fragen zu Einzelobjekten (etwa Namen) empfunden. Hilfreich sei auch ein Hinweis auf bereits benutzte Archive. Grundsätzlich unterschieden wird zwischen wissenschaftlicher (d.h. Einsicht mit Publikationsabsicht) und "privater" Nutzung der Archivbestände (gebührenpflichtig). In der Regel sind ArchivarInnen angehalten, 20-25% ihrer Arbeitszeit für die Benutzerbetreuung aufzuwenden. Dies entspricht ca. 2 Stunden/Tag inklusive der Beantwortung schriftlicher Anfragen (!). Bei der Ankunft wird erwartet, dass der/die NutzerIn die wichtigsten Publikationen zum Thema bereits kennt und über ein grobes Zahlengerüst und die Kenntnis der handelnden Personen verfügt. Allgemein wurde in den zwei Tagen deutlich, dass viele Informationen (nur) personengebunden abgefragt werden können. Grundsätzlich werden Kontakte von Nutzern untereinander von Archivaren gerne vermittelt, es sei denn, Nutzer haben sich dies ausdrücklich verbeten. Begrüßt werden Hinweise von Nutzern auf Bestände in anderen Archiven oder noch nicht archivierte Bestände in Behörden. Wünschenswert aus Sicht der ArchivarInnen sind auch Rückmeldungen der Nutzer über die Sammlungsstrategie des Archivs: nur ca. 2% aller Unterlagen, die an ein Archiv gelangen, werden tatsächlich als archivwürdig definiert und auf Dauer behalten. Für die Archivare ist es daher hilfreich, von Nutzern zu erfahren, ob diese 2% sinnvoll ausgewählt waren. Der/die NutzerIn hat im öffentlichen Bereich einen Rechtsanspruch auf Benutzung und auch auf den Hinweis auf entsprechende Bestände. Dieser lässt sich auf den §5 des Grundgesetzes zurückführen, ist aber auch in Bundes- und Landesarchivgesetzen formuliert. Bewußtes Unterlassen von Hinweisen seitens der Archivare ist - juristisch gesehen - ein Amtsvergehen. Im Wirtschaftsarchiv dagegen werden Bestände aus Privatbesitz einzelner Unternehmen treuhänderisch verwaltet. Hier hat der Nutzer keinerlei Rechtsanspruch auf Einsicht. Die Firmen haben die Möglichkeit, Teile ihrer Bestände sperren zu lassen. Hiervon werde in der Praxis jedoch wenig Gebrauch gemacht. Im 20. Jahrhundert (ab ca. 1930) trifft man/frau als NutzerIn auch in öffentlichen Archiven auf gesperrte Bestände: dies ist z.B. bei vielen personenbezogenen Daten (Geburtsjahr-plus-90 Jahre-Sperre), Zeugenaussagen in Prozessen und bei Informationen über Unternehmen, die als Betriebsgeheimnisse gelten, der Fall. Anträge auf Ausnahmeregelungen können bei der Archivleitung eingereicht werden und werden auch dort entschieden. Für die Preisgabe solcher Geheimnisse bzw. die Verletzung des (auch postmortalen) Datenschutzes kann der/die ArchivarIn theoretisch strafrechtlich belangt werden; in der Praxis ist dies jedoch bisher noch nicht vorgekommen. Sehr eingängig war auch der Hinweis auf die Personengruppe, mit der man/frau es im Archiv zu tun bekommt: ArchivarInnen sind durchgängig Beamte des höheren Dienstes, die ein Studium (meist der Geschichte) mit Promotion abgeschlossen haben. Auch ArchivarInnen sind also ausgebildete HistorikerInnen!
Die besuchten Archive
Das Archiv des Deutschen Museums, welches seit Gründung des Deutschen Museums (als "Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik", 1903) besteht, ist kein aktenübernehmendes, sondern ein sammelndes Archiv; die Sammlungspolitik richtet sich dabei nach dem Deutschen Museum: sie ist überregional und auf hochkarätige Bestände, die für den Fortgang in Wissenschaft und Technik stehen, ausgerichtet. Der Archivleiter, Wilhelm Füßl, gab einen Überblick über Bestände, Findmittel und grössere Projekte: Der Gesamtbestand von 4,5 km beinhaltet u.a. ca. 230 Nachlässe bedeutender Ingenieure und Wissenschaftler (darunter nur eine Handvoll Frauen, u.a. die Fliegerin Hanna Reitsch), eine Plansammlung, die Sammlung Firmenschriften (also Gebrauchsanweisungen, Preislisten, Kataloge u.ä., nicht aber die Firmenfestschriften, die in die Bibliotheken gelangen) und das Bildarchiv. Allgemein ist der Bestand eher personenbezogen, und die Luft- und Raumfahrt bildet einen Schwerpunkt des Sammelns. Firmenschriften wurden seit Gründung des Museums gesammelt, da sie für die Inbetriebnahme der Ausstellungsobjekte relevante Informationen bergen, und werden erst in letzter Zeit als unerlässliche Quellengattung für eine Objektgeschichte entdeckt. Ein wichtiger Aspekt der Archivarbeit ist die Digitalisierung der Bestände; so wurden parallel zur Ausstellung "Geheimdokumente zum deutschen Atomprogramm (1938-45)" die dort gezeigten Dokumente vollständig digitalisiert und im Netz, mit digitalem Stempel versehen, bereitgestellt. Derzeit wird der Glasplattenbestand von Ernst Mach, auf welchem seine Versuche mit schnellfliegenden Geschossen dokumentiert sind, digitalisiert, denn Glasplatten sind schwierig in der Handhabung. Ein Grund der EDV-Aufarbeitung liegt nach Füßl auch in dem Wunsch, die vorhandenen Archivalien zu "entpersonalisieren", d.h. sie unabhängig von der Person des Archivars bereitzustellen.
Abschliessend demonstrierte Füßl anhand einiger Archivalien ausgewählte Aspekte der Quellenkritik. Beispielsweise kann die technische Zeichnung von Lilienthal erst durch eine briefliche Parallelüberlieferung vollständig erschlossen werden und ein Brief von Berzelius aus dem Jahre 1832 gibt aufgrund kleiner, regelmässiger Lochungen Aufschluss über das Hygieneverständnis der Zeit, denn er wurde - aus dem von der Cholera heimgesuchten Stockholm kommend - vor seiner Zustellung ausgeräuchert, wozu er mit einer Zange durchbohrt werden musste. Das Bayerische Wirtschaftsarchiv, 1994 als Gemeinschaftseinrichtung der bayerischen Industrie- und Handelskammern gegründet und von ihnen und durch Mitglieder- und Spendenwerbung finanziert, ist ein Archiv, in dem hauptsächlich mittelständische Unternehmen ihre Firmenunterlagen zur archivalischen Erschließung und Konservierung abgeben können. Ziel des Archivs ist es, ein wirklichkeitsgetreues Spiegelbild der Wirtschaft in Bayern archivalisch festzuhalten, das alle Bereiche des Wirtschaftslebens abdeckt. Realiter ist man jedoch auf die freiwillige Abgabe der Unternehmen angewiesen. Gesammelt werden Unterlagen von Industrie-, Handels- und Dienstleistungsunternehmen (landwirtschaftliche und handwerkliche Betriebe sind praktisch nicht vertreten), von Vereinen und Verbänden der Wirtschaft, Industrie- und Handelskammern sowie Persönlichkeiten der Wirtschaft (wie z.B. des ehemaligen BDI-Präsidenten Rolf Rodenstock). Initiativ wird das Archiv bei dem Versuch, die Firmendokumente von in Konkurs gegangenen Unternehmen zu sichern, was sich oft als komplizierte juristische Gratwanderung erweist. Die Firmenunterlagen (Textdokumente, aber auch Fotografien und Realia) werden meist in Krisenzeiten der Unternehmen vom Wirtschaftsarchiv treuhänderisch übernommen, das sich damit verpflichtet, ein Findbuch zu erstellen. 20 Jahre nach Abschluß dieses Vertrages gehen die Archivalien in den Besitz des Wirtschaftsarchivs über. Momentan umfasst die Sammlung ca. 180 Bestände (5,5 Regalkilometer), darunter vertreten sind die Brauerei Löwenbräu, der Verlag Oldenbourg, Kathreiner Malzkaffee und die europäische NCR Dayton, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Berlin nach Augsburg übersiedelte. Der früheste Bestand datiert aus dem 16. Jahrhundert (Protokolle der Augsburger Kaufleutestube, 1546-1700), der Großteil stammt jedoch aus dem 20. Jahrhundert. Die Unterlagen der Firmen sind meist technischer Art, stellen aber auch eine Fundgrube für sozialgeschichtliche Zusammenhänge dar. So befindet sich z.B. im Bestand des Verlags Oldenbourg der gesamte Briefwechsel des Raketenforschers Herman Oberth, u.a. mit seinem Kollegen Ziolkowski in der Sowjetunion. Dokumente betriebswirtschaftlicher Art jedoch, wie z.B. zu Löhnen, Gehältern, Preisen, sind - wider Erwarten - eher selten zu finden. Im Moment arbeiten die Mitarbeiter daran, eine Datenbank aller Firmenfestschriften des Archivs über das Internet verfügbar zu machen.