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Dorothea Schmidt
"Ein Klavier, ein Klavier..." - Klavierbau und Klavierspiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Berlin

Das 19. Jahrhundert war wie kein anderes das Jahrhundert des Hammerflügels, später auch der bescheideneren Version des Pianinos, die sich in dieser Zeit gegenüber allen anderen Tasteninstrumenten durchsetzten. Dieser phänomenale Aufstieg des Klaviers ist sowohl musikwissenschaftlich wie technikgeschichtlich umfangreich aufgearbeitet worden, wobei in der Forschung ein Ansatz dominiert, der in erster Linie die geradlinige Weiter- und Höherentwicklung des Instruments beschreibt. Die Sichtweise der beständigen Perfektionierung von Artefakten ist in der Technikgeschichte für unterschiedlichste Produkte - etwa die Drehbank oder das Telefon - von jeher bekannt, führt jedoch stets zu spezifischen Einseitigkeiten, da vor allem das beachtet wird, was einzelne Herstellerfirmen als technologische Neuheit präsentieren. Demgegenüber war der alltägliche Umgang mit Technik auch in dieser Zeit wesentlich komplexer. Bei den Produzenten gab es ein Nebeneinander von Innovationen und Festhalten am Althergebrachten, von Spitzenprodukten und billigen Imitationen, von Qualitätsfertigung und Massenproduktion, von handwerklicher und industrieller Orientierung; bei den Konsumenten die Verwendung von neuen und gebrauchten Klavieren, von hochwertigen Instrumenten und solchen einfachster Bauart. Diese Koexistenz höchst heterogener Muster der Herstellung und des Gebrauchs hat beim Klavier unter anderem damit zu tun, dass das Instrument von unterschiedlichsten Spielern und zu unterschiedlichsten Gelegenheiten benutzt wurde: vom Virtuosen im Konzertsaal wie von der "höheren Tochter" der gutbürgerlichen Familie, vom Korrepetitor im Musikleben wie vom Klavierspieler in einem Kaffeehaus oder in einem Variete.

Anhand des Beispiels von Berlin soll versucht werden, die Vielschichtigkeit der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Berlin bietet sich als Untersuchungsfeld vor allem deshalb an, weil hier eine urbane Kultur bestand, in der sich eine Vielzahl von Lebensformen herausbildeten, die auf je eigene Weise mit dem Klavierspiel verbunden waren. Dazu kommt, dass die Stadt in dieser Periode zum Zentrum des deutschen Klavierbaus wurde, in der nicht nur bekannte Klavierbau-Firmen wie Bechstein und eine Reihe von Zulieferern ihren Sitz hatten, sondern auch mehr als 200 kleinere und weniger bekannte Unternehmen.