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Schwindel, Kreischen, Gliederkribbeln: Großstädtische Freizeitparks um 1900

Heike Weber

Der Vortrag beschäftigt sich mit der Technisierung der großstädtischen Unterhaltungsangebote in den drei Jahrzehnten zwischen 1880 bis 1910, und zwar vorwiegend am Beispiel Berlins. Es wird ein Überblick über die damaligen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung in der Stadt und die Rolle der Technik innerhalb von Unterhaltung und Vergnügen gegeben; im zweiten Teil werden die Berliner Freizeitparks, die seit den 1880er Jahren in den Vororten entstanden, näher vorgestellt und als Trainingsort für die heutige "Erlebnisgesellschaft" (G. Schulze) interpretiert.

Die Vergnügungsparks der Jahrhundertwende fassten die üblichen zeitgenössischen Attraktionen in einem geschlossenen Areal zusammen und hielten zusätzliche Sensationen wie üppige Beleuchtung, pyrotechnische Schauspiele, Ballonaufstiege oder riesige Fahrgeschäfte bereit. Um ein möglichst breites Publikum zu erreichen, schöpften die Parks sowohl aus der bürgerlichen Unterhaltungskultur (z. B. in Form von Gesellschaftsgärten oder Panoramen) als auch aus der Volkskultur, hier insbesondere aus der Tradition der vorstädtischen Ausflugslokale und den Attraktionen des Jahrmarkts.

Bis 1910 kam es zu einer weitgehenden technischen Durchdringung des städtischen Unterhaltungsangebotes und insbesondere der Vergnügungsparks, die selbst als Maschine verstanden werden können: Technik (z. B. in Form von Kino, Karussell, Achterbahn oder Wackeltopf) wurde hier von den Unterhaltungsanbietern rationell und effizient eingesetzt, um bei einer möglichst großen Masse Effekte wie Illusionen, ungewohnte Bewegungsreize oder zwischenmenschliche Kontakte zu produzieren. Die Besucher übten auf den Vergnügungsparks öffentlich und kollektiv ein, was die heutige, individuelle Freizeitgestaltung in weitem Maße prägt: eine Techniknutzung, die nicht der Herstellung von materiellen Artefakten dient, sondern sinnliche und körperliche "Erlebnisse" ermöglicht. Im Unterhaltungsbereich dient Technik - allgemein gesprochen - dazu, "Erlebnisse" zu produzieren, zu intensivieren oder zu verdichten, wobei für viele dieser "Erlebnisse" inzwischen kein Pendant mehr abseits ihrer technischen Realisierung besteht. Was ein "Erlebnis" darstellt, ist jedoch nicht objektiv fassbar, sondern vom Einzelnen, seinen emotionalen und kulturellen Dispositionen und insbesondere seiner eigenen, aktiven Wahrnehmung des erlebten Ereignisses abhängig, denn es handelt sich um innere Wirkungen wie Spaß und Spannung, Glücks- und Angstmomente, die sich lediglich in körperlichen Begleiterscheinungen wie Schwindel, Kreischen oder Gliederkribbeln äußern. Der Vergnügungspark der Jahrhundertwende legitimierte solche Sinnenerlebnisse und Grenzerfahrungen, weil er eine spielerische Gegenwelt mit eigenen Verhaltens- und Wahrnehmungsregeln darstellte. Ähnlich wie die Warenhäuser können die Freizeitanlagen als ein früher und wichtiger Einübungsort für die Konsum- und Erlebnisgesellschaft interpretiert werden, wobei der hier "geübte" Konsum wesentlich radikaler war, denn er beinhaltete fast nie Waren oder haltbare Erlebnisangebote, sondern vor allem flüchtige Gefühle und Sensationen, die an diesen Spielort gebunden waren; nur Souvenirs in Form von Postkarten oder Fotografien konnten zur späteren Erinnerung an das dortige Erleben mit nach Hause genommen werden.

Außerdem bereitete die vergnügliche Aneignung einer konkreten Technik oftmals deren spätere alltägliche Verwendung in anderen Sphären vor: So liefen die ersten elektrischen Eisenbahnen Berlins in Vergnügungsparks, diese wurden sehr früh elektrisch beleuchtet und integrierten in ihrem Bestreben nach neuen Sensationen schnell technische Neuheiten wie Schnellfotografie, Telefon oder Phonograph in ihr Angebot.